VG Bremen 3. Kammer / Az.: 3 K 296/15 / Ungarn

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Nach Auswertung der aktuellen Auskunftslage zum Zielstaat Ungarn sei zwar davon auszugehen, dass einem nach Ungarn abgeschobenen Asylbewerber im Regelfall nicht die Gefahr eines Refoulments im Sinne von Artikel 33 Genfer Konvention drohen werde. Allerdings werde der Kläger bei einer Abschiebung nach Ungarn mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit verhaftet werden. Das Verfahren der Haftanordnung, -überprüfung und -verlängerung werde in einer Weise praktiziert, die die Betroffenen zu reinen Objekten des Verfahrens herabwürdige. Im Zusammenspiel mit Haftbedingungen, die nicht den Mindeststandards an eine menschenwürdige Unterbringung entsprächen, drohe dem Kläger als Dublin-Rückkehrer in Ungarn mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine mit Art. 3 EMRK nicht vereinbare Behandlung. Hierzu führte der Einzelrichter in seinem Beschluss vom 30.03.2015 im Einzelnen wie folgt aus (S. 8ff.):

„(2) Asylsuchende unterliegen in Ungarn weiterhin einem erheblichen Risiko, für einen längeren Zeitraum in Haft genommen zu werden. Der UNHCR weist in einer Auskunft vom 09.05.2014 an das VG Düsseldorf zwar darauf hin, dass gegenüber den Vorjahren in 2013 ein signifikanter Rückgang der Inhaftierungen zu verzeichnen gewesen sei. Jetzt würden nur noch etwa 25% aller Asylsuchenden in Haft genommen. Der Kommissar für Menschenrechte des Europäischen Rates, Nils Muiznieks, bestätigt in einem Report vom 16.12.2014 über einen Besuch des Landes Ungarn im Juli 2014 (im Folgenden: Muiznieks-Report) diese Zahlen. Ergänzend merkt er jedoch an, dass sich zum Zeitpunkt seines Besuchs aus der Gruppe der allein reisenden männlichen Asylbewerber wohl 42 % in Haft befunden hätten (Rdnr. 155): Allerdings weist der UNHCR in mehreren Auskünften (09.05.2014 an VG Düsseldorf; 20.09.2014 an VG Freiburg; 30.09.2014 an VG Bremen) darauf hin, dass Personen, die gemäß der Dublin-Verordnung überstellt würden, bei der Einreise nach Ungarn stets inhaftiert würden. Hier scheine die Migrationsbehörde (OIN) davon auszugehen, dass die Betroffenen untertauchen und die Entscheidung des Asylantrags nicht abwarten würden, weil sie schon einmal illegal aus Ungarn ausgereist seien. Auch die Organisation Pro Asyl berichtet in einer Auskunft vom 31.10.2014 an das VG Düsseldorf von einem erhöhten Verhaftungsrisiko für Dublin-Rückkehrer in Ungarn. Demgegenüber führt das Auswärtige Amt in seiner o.a. Auskunft vom 19.11.2014 aus, dass eine regelhafte Inhaftnahme von Dublin-Rückkehrern nicht bestätigt werden könne. Die Belastbarkeit dieser Stellungnahme des Auswärtigen Amtes relativiert sich indes durch den Umstand, das sie auch in anderen Punkten in einem deutlichen Kontrast zu anderen aktuellen Auskünften, insbesondere auch zu denen des UNHCR und zu dem Muiznieks-Report, steht. Dies lässt den Schluss zu, dass in der o.a. Auskunft des Auswärtigen Amtes eher die Rechtslage in Ungarn, als die davon wohl mitunter abweichenden tatsächlichen Verhältnisse im Land beschrieben werden. Mehrere Auskunftsstellen berichten zudem darüber, dass seit September 2014 verstärkt asylsuchende Familien mit Kindern inhaftiert würden, was seit Juli 2013 zwar gesetzlich möglich, aber bisher nicht praktiziert worden sei. Die einschlägigen Hafteinrichtungen seien für die Unterbringung von Familien im Übrigen auch nicht geeignet (Hungarian Helsiki Committee -HHC-/AIDA vom 04.11.2014 „Asylum Seeking Families Detained in Hungary Against Children’s Best Interest“; Pro Asyl vom 31.10.2014 an VG Düsseldorf).

(3) Übereinstimmend kritisierten mehrere Institutionen die Inhaftierungspraxis und eine unzureichende gerichtliche Überprüfung und Kontrolle von Haftgründen und Haftverlängerungen. Der UNHCR moniert in seiner o.a. Auskunft vom 09.05.2014 an das VG Düsseldorf, dass keine Klarheit darüber bestehe, nach welchen Kriterien Haft angeordnet werde. Die Haftgründe in dem am 01.07.2013 in Kraft getretenen Asylgesetz seien sehr vage und weit formuliert worden. Auf Nachfrage hätten ungarische Behörden mitgeteilt, dass die Verteilung von Asylbewerbern auf offenen oder geschlossene Unterbringungseinrichtungen letztlich davon abhänge, wo gerade Plätze frei seien (ebenso: Muizineks-Report, Rdnr. 156). Der Muizineks-Report bemängelt, dass es keine Rechtsmittel des Betroffenen gegen die Verhängung von Asylhaft gebe. Nach den im Juli 2013 in Kraft getretenen gesetzlichen Bestimmungen könnten Asylsuchende zunächst für 72 Stunden in Gewahrsam genommen werden. Die Haft könne danach durch ein Gericht mehrfach um jeweils bis zu 60 Tage verlängert werden bis zu einer maximalen Gesamthaftzeit von sechs Monaten (Rdnr. 152). Alternativen zur Haft, wie das Hinterlegen einer Kaution, würden kaum in Erwägung gezogen. Grund für die seltene Verwendung von Kaution solle auch das Fehlen von klaren Richtlinien in Bezug auf ihre Anwendung und eine undurchsichtige und inkonsistente Handhabung im ganzen Land sein. Der Kautionsbetrag in Höhe von 2.000 Euro sei vom betroffenen Personenkreis zudem kaum aufzubringen (Rdnr. 155). Zum Verfahren der Haftprüfung führt der UNHCR in seiner o.a. Auskunft vom 09.05.2014 ergänzend aus, dass die Erfahrung gezeigt habe, dass die Gerichte die Haftanordnungen aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung meist um die maximal mögliche Spanne von 60 Tagen verlängern würden. Die Häftlinge würden den Gerichten in Gruppen vorgeführt. Für die Bearbeitung des Einzelfalls blieben so meist weniger als drei Minuten. Ein individuelle Prüfung von Haftgründen sei bei dieser Verfahrensweise nicht möglich. Eine Evaluation des Verfahrens durch eine Arbeitsgruppe des Obersten Gerichtshof habe ergeben, dass die Gerichte in allen Fällen die behördlichen Haftverlängerungen abgesegnet hätten. Die sog. EU-Aufnahme-Richtline […] sei in Ungarn nur teilweise in nationales Recht umgesetzt worden. In seiner Auskunft vom 30.09.2014 an das VG Düsseldorf hat der UNHCR die vorstehenden Feststellungen wiederholt. Weiter weist er in dieser Auskunft darauf hin, dass Haftanordnungen nicht individualisiert würden. Sie enthielten keine einzelfallbezogene Begründung, insbesondere auch nicht zu der Frage, warum die Asylhaft das einzige Mittel zur Sicherstellung der Anwesenheit des Betroffenen im laufenden Asylverfahren sei. Die gleiche Kritik äußerte Pro Asyl unter Bezugnahme auf Auskünfte des HHC in seiner Stellungnahme 31.10.2014 an das VG Düsseldorf. Ergänzend wir darin weiter ausgeführt, dass die offiziellen Angaben staatlicher Stellen zur durchschnittlichen Asylhaftdauer in Ungarn (32 Tage) wesentlich niedriger seien, als die vom HHC bei der Überprüfung festgestellten Werte. Das HHC habe in der Vergangenheit beobachtet, dass die maximale Haftdauer in vielen Fällen voll ausgeschöpft worden sei. Zudem soll nach den Feststellungen von Pro Asyl in den Haftanstalten der Zugang zu einer Rechtsberatung praktisch nur über Vertragsanwälte des HHC möglich sein, die die Einrichtungen einmal pro Woche besuchen. Das habe zur Folge, dass nur eine Minderheit der inhaftierten Asylsuchenden Rechtsberatung erhalte oder anwaltlich vertreten werde (Auskunft v. 31.10.2014, Antworten 5h und 11). Auch der UNHCR führt in seiner Stellungnahme vom 30.09.2014 für das VG Düsseldorf aus, dass Asylsuchende nach dem Gesetz zwar Anspruch auf ein kostenlose Rechtsberatung hätten, in der Praxis eine eine qualifizierte Beratung durch das staatliche Rechtshilfesystem aber nicht verfügbar sei. Eine solche Verfahrenspraxis wird den Anforderungen des Art 9 Abs. 6 der EU-Aufnahme-Richtlinie nicht gerecht, wonach Schutzsuchende in gerichtlichen Verfahren zur Überprüfung von Haftanordnungen unentgeltliche Rechtsberatung und -vertretung in Anspruch nehmen können.

(4) Die Haftbedingungen für Asylbewerber werden weiterhin vielfach kritisiert. Zu den Bedingungen in der Haft führt der UNHCR in seinen Auskünften vom 09.05.2014 an das VG Düsseldorf und vom 30.09.2014 an das VG Bremen aus, dass Dublin-Rückkehrer in die sog. Asylhaft genommen würden, die vom Office of Immigration and Nationality (OIN) betrieben werde. In der Asylhaft werde schlecht geschultes Wach- und Betreuungspersonal eingesetzt. Daneben gebe es die von der Polizei verwaltete Migrationshaft mit in der Regel besser qualifizierten Personal, in die Folgeantragsteller aufgenommen würden. Es werde von Inhaftierten kritisiert, dass in der Asylhaft keine angemessene medizinische Betreuung gewährleistet sei. Es finde hier auch keine Betreuung durch Psychologen statt. Einige Hafteinrichtungen würden nicht die hygienischen Mindeststandards (zu wenige Duschen und Bäder; unzureichende Ausstattung) erfüllen. Es geben Berichte über Misshandlungen und Schikane und Beschwerden über brutale Übergriffe. Es werde von einer steigenden Zahl von Beschwerden über die Brutalität des Wachpersonals in der Hafteinrichtung Debrecen berichtet. Es sei zudem zu kritisieren, dass die Asylhäftlinge zu Behörden- oder Arztterminen außerhalb der Hafteinrichtung wie Strafgefangene in Handschellen und an einer Leine ausgeführt würden. Der starke Zustrom von Asylsuchende im Sommer 2013 habe zu einer erheblichen Verschlechterung der hygienischen Bedienungen und der Sicherheitslage geführt. Die klaren Profile der OIN-Aufnahmeeinrichtungen hätten wegen des Asylbewerberzustroms nicht aufrechterhalten werden können. In den Einrichtungen seien nun Menschen mit gänzlich unterschiedlichem Rechtsstatus untergebracht. Pro Asyl kommt in seiner Stellungnahme vom 31.10.2014 zu einer ähnlichen Bewertung der Haftbedingungen. Ergänzend weist die Organisation allerdings darauf hin, dass sich die Insassen tagsüber innerhalb der Hafteinrichtungen frei bewegen könnten.

In einer zusammenfassenden Betrachtung der aktuellen Auskunftslage kommt der entscheidende Einzelrichter zu der Überzeugung, dass gravierende Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Antragsteller als sog. Dublin-Rückkehrer in Ungarn aufgrund oder oben beschriebenen systemischen Verfahrensmängel mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer Behandlung ausgesetzt sein wird, die Art. 3 EMRK verletzen würde.