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VG Minden AZ.: 11 L 233 / 17 A / Bulgarien

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[…]

Der nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO statthafte Abänderungsantrag ist dagegen begründet. […]

Es liegen nämlich veränderte Umstände vor, insbesondere eine die Beurteilung der Erfolgsaussichten der Hauptsacheentscheidung erheblich zugunsten der Antragsteller beeinflussende höchstrichterliche Rechtsprechung zum Prüfungsmaßstab in asylrechtlichen Eilverfahren und zu Fragen der unionsrechtskonformen Auslegung von § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG (vgl. zur Erheblichkeit einer sich nachträglich ergebenden Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung für die Beurteilung eines Antrags nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO: BVerfG, Beschluss vom 26.08.2004 – 1 BvR 1446/04 -, juris; Kopp/Schenke, VwGO, 21. Aufl. 2015, § 80 Rn. 197, jew. m.w.N.). […]

Ob diese Voraussetzungen tatsächlich weiterhin vorliegen, ist gegenwärtig zumindest offen. Es ist nämlich ungeklärt, welche rechtlichen Auswirkungen der Inhalt der Auskünfte der bulgarischen Behörden vom 28.09.2016 in Bezug auf die Antragsteller hat. Danach haben beide bereits am 17.02.2014 in Bulgarien den subsidiären Schutzstatus zuerkannt bekommen und damit internationalen Schutz i.S.d. § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG erhalten. Folglich liegt im Ausgangspunkt nach wie vor eine Schutzgewährung durch einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union vor. Es ist jedoch gegenwärtig offen, ob diese Schutzgewährung eine „Aufstockung“ des internationalen Schutzes durch die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in der Bundesrepublik Deutschland ausschließt, oder ob eine solche unionsrechtlich möglich oder sogar geboten ist, jedenfalls dann, wenn das Asylverfahren in dem anderen Mitgliedstaat mit systemischen Mängeln behaftet war und weiterhin ist (vgl. hierzu Vorlagebeschlüsse des BVerwG an den EuGH vom 23.05.2017 – 1 C 17.16 und 1 C 20.16 -, juris; zuvor noch ablehnend: BVerwG, Urteil vom 17.06.2014 – 10 C 7.13 -, juris Rn. 28 ff., m.w.N., und Beschluss vom 26.10.2010 – 10 8 28.10 -, juris).

Insoweit könnten Umstände gegeben sein, unter denen sich die Rechtmäßigkeit der Unzulässigkeitsentscheidung letztlich nicht verlässlich prüfen bzw. nicht im Sinne eines acte claire beantworten lässt, ohne zunächst die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs auf die Vorlagefragen des Bundesverwaltungsgerichts abzuwarten. Dies dürfte zugleich eine vorläufige Rücküberstellung der Antragsteller nach Bulgarien mit der Folge, dass sie das Hauptsacheverfahren von dort aus weiter betreiben müssten, im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als unzumutbar erscheinen lassen (vgl. zum Prüfungsmaßstab im asylrechtlichen Eilverfahren bei klärungsbedürftigen Fragen des Unionsrechts: BVerfG, Beschluss vom 17.01.2017 – 2 BvR 2013/16 -, juris Rn. 18 ff.).

Hinzu kommt, dass entgegen der Auffassung des Bundesamtes doch Einiges dafür spricht, dass ein nationalrechtliches Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK in Bezug auf Bulgarien vorliegt. Zwar geht die Kammer nach wie vor davon aus, dass Asylantragstellern in Bulgarien nicht generell und unterschiedslos eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i.S.v. Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 EU-Grundrechte-Charta droht (vgl. OVG Saarland, Urteil vom 16.11.2016 – 2 A 89/16 -, juris; VG Düsseldorf, Urteil vom 14.11.2016 – 12 K 5984/16.A -, juris; VG Minden, Beschlüsse vom 11.10.2016 – 5 L 1673/16.A -, vom 18.10.2016 – 11 L 1608/16.A -, vom 28.10.2016 – 1 L 1783/16.A -, vom 21.12.2016 – 11 L 1999/16.A -, vom 08.03.2017 – 11 L 233/17.A – und vom 13.03.2017 – 11 L 410/17.A -, jew. n.v.).

An der vorstehend zitierten Rechtsprechung, auf die wegen der weiteren Nachweise Bezug genommen wird, hält die erkennende Kammer nach wie vor im Grundsatz fest. […]

Im vorliegenden, konkreten Einzelfall kann jedoch an der bisherigen Rechtsauffassung der Kammer, dass die im vorstehenden Bericht und in früheren Berichten benannten Schwierigkeiten Bulgariens bei der Aufstellung und Umsetzung eines Integrationsprogrammes für anerkannte Flüchtlinge zwar noch bestehen, diese aber (noch) nicht die Annahme rechtfertigen, dass international Schutzberechtigten in Bulgarien eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i.S.v. Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 EU-Grundrechte-Charta droht, nicht festgehalten werden.

Dem liegen folgende Erwägungen zu Grunde: […]

In Fällen, in denen es um die Beurteilung der Aufnahmebedingungen in einem Drittstaat als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK geht, kommt der verfahrensrechtlichen Sachaufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 VwGO) verfassungsrechtliches Gewicht zu. Die fachgerichtliche Beurteilung solcher möglicherweise gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Aufnahmebedingungen muss daher, jedenfalls wenn diese ernsthaft zweifelhaft sind und damit der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens erschüttert ist, auf einer hinreichend verlässlichen, auch ihrem Umfang nach zureichenden tatsächlichen Grundlage beruhen. Dabei kann es sowohl verfassungsrechtlich als auch konventionsrechtlich geboten sein, dass sich die zuständigen Behörden und Gerichte vor einer Rückführung in den Drittstaat über die dortigen Verhältnisse informieren und gegebenenfalls Zusicherungen der zuständigen Behörden einholen. Soweit entsprechende Erkenntnisse und Zusicherungen im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht vorliegen und nicht eingeholt werden können, ist es zur Sicherung effektiven Rechtsschutzes geboten, die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 08.05.2017 – 2 BvR 157/17 -, juris Rn. 16 f., m.w.N.).

Hierbei ist zu berücksichtigen, dass anerkannt Schutzberechtigten nach Art. 20 ff. der Richtlinie 2011/95/EU (im Folgenden: Qualifikationsrichtlinie) und den Wohlfahrtsvorschriften der Genfer Flüchtlingskonvention im Wesentlichen – nur – ein Anspruch auf Inländergleichbehandlung zusteht und dieser Anspruch im Falle Bulgariens (wohl) überwiegend auch erfüllt wird. Allerdings betont das Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung betreffend die Rückführung eines anerkannt Schutzberechtigten nach Griechenland, dass gerade den von Art. 34 Qualifikationsrichtlinie geforderten, über die bloße Inländergleichbehandlung hinausgehenden Integrationsmaßnahmen besondere Bedeutung zukommt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 08.05.2017 – 2 BvR 157/17 -, juris Rn. 20).

Nach Auswertung der zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel ist ernsthaft zweifelhaft, ob die unionsrechtlich geforderten Integrationsmaßnahmen durch die Republik Bulgarien in gebotener Weise bereitgestellt werden. […]

Die Frage einer Verletzung von Art. 3 EMRK ist mit Blick darauf und im Hinblick auf die stark divergierende Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte sowie die gegen die Beschlüsse der Kammer in den Verfahren 11 L 410/17.A und 11 L 784/17.A derzeit anhängigen Verfassungsbeschwerden zumindest als derart klärungsbedürftig anzusehen, dass eine weitere Sachaufklärung in Rahmen eines Hauptsacheverfahrens notwendig wäre.

Es ist demgegenüber nicht Aufgabe der Verwaltungsgerichte und – gerade auch vor dem Hintergrund der in § 36 Abs. 3 Satz 5 AsylG normierten Entscheidungsfrist von einer Woche – nicht Sinn und Zweck des Eilverfahrens in Asylsachen. vor der Entscheidung eine individuelle Zusicherung der bulgarischen Behörden einzuholen, dass den Antragstellern solange Zugang zu Obdach, Nahrungsmitteln und sanitären Einrichtungen garantiert wird, bis die Antragsteller zu 1. und 2. in der Lage sind, sich in Bulgarien mit eigenen Mitteln zu unterhalten. Bestehen ernstliche Zweifel, ist die aufschiebende Wirkung der Klage in der Hauptsache aus verfassungsrechtlichen Gründen zwingend anzuordnen (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 17.01.2017 – 2 BvR 2013/16 -, juris Rn. 17 ff. und vom 21.04.2016 – 2 BvR 273/16 -, a.a.O., Rn. 14 ff.).

Das Gericht weist vorsorglich darauf hin, dass die Entscheidungen des Bundesamtes über die Unzulässigkeit des Asylantrags sämtlicher Antragsteller nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG und die Abschiebungsandrohung aufgrund dieser stattgebenden gerichtlichen Entscheidung gern. § 37 Abs. 1 Satz 1 AsylG unwirksam werden. Das Bundesamt hat aufgrund dieser Entscheidung des Verwaltungsgerichts das Asylverfahren sämtlicher Antragsteller von Gesetzes wegen im nationalen Verfahren durchzuführen (§ 37 Abs. 1 Satz 2 AsylG). Es ist unerheblich, aus welchen Gründen das Verwaltungsgericht die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet hat (vgl. VG Minden, Beschlüsse vom 27.07.2017 – 3 L 1181/17.A – und vom 17.07.2017 – 11 L 1091/17.A -, jew. n.v.; VG Düsseldorf, Beschluss vom 17.07.2017 – 22 L 3003/17.A -, juris Rn. 31; VG Berlin, Beschluss vom 17.07.2017 – 23 L 507.17.A -, juris Rn. 19, m.w.N.; Pietzsch, in Beck‘scher Online-Kommentar Ausländerrecht, 14. Edition, Stand: 01.05.2017, § 37 AsylG Rn. 3.1, m.w.N.). […]

VG Hannover / AZ.: 7B 387 / 17 / Bulgarien

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 […] Darüber hinaus hat der Einzelrichter der 6. Kammer des VG Hannover mit Urteil vom 11.11.2016 – 6 A 6144/15 – (Entscheidungsabdruck S. 4ff.) aktuell ausgeführt:[

„Nach Auffassung des Gerichts gibt es im Sinne von Art 3 Abs. 2 Dublin-III-VO wesentliche Gründe für die Annahme systemischer Schwachstellen hinsichtlich der Asylverfahren und der Aufnahmebedingungen für Antragssteller in Bulgarien, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GR-Charta mit sich bringen.

Eine systematisch begründete, ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GR-Charta liegt vor, wenn mit Blick auf das Gewicht und Ausmaß einer drohenden Beeinträchtigung dieses Grundrechts mit einem beachtlichen Grad von Wahrscheinlichkeit eine reale, nämlich nämlich durch eine hinreichend gesicherte Tatsachengrundlage belegte Gefahr besteht, dass dem Betroffenen in dem Mitgliedsstaat, in den er überstellt werden soll, entweder schon der Zugang zu einem Asylverfahren, welches nicht mit grundlegenden Mängeln behaftet ist, verwehrt oder massiv erschwert wird, das Asylverfahren an grundlegenden Mängeln leidet oder dass er während der Dauer des Asylverfahrens wegen einer grundlegend defizitären Ausstattung mit den notwendigen Mitteln elementare Grundbedürfnisse des Menschen (wie z.B. Unterkunft, Nahrungsaufnahme und Hygienebedürfnisse) nicht in einer noch zumutbaren Weise befriedigen kann (vgl. OVG NRW, Urteil vom 7. März 2014 – 1 A 21/12.A -, juris). Sind in diesem Zusammenhang bestimmte Anforderungen in EU-Richtlinien festgelegt worden, kann sich (konkretisierend) auch daraus der im Sinne der angesprochenen Artikel für ein menschenwürdiges Dasein einzuhaltende Maßsstab ergeben, soweit es sich dabei erkennbar um Mindestanforderungen handelt. Hieran muss sich dann nicht nur der Inhalt nationaler Rechtsvorschriften, sondern auch und gerade die praktische Umsetzung messen lassen (vgl. OVG NRW, a.a.O.).

Hinzukommen muss immer, dass der konkrete Schutzsuchende auch individuell betroffen wäre. Es genügt nicht, dass lediglich abstrakt bestimmte Schwachstellen festgestellt werden können, wenn sich diese nicht auf den Antragssteller auswirken können (VGH Mannheim, Urteil vom 1. April 2015 – A 11 S 106/15 -, juris).

Nach diesem Maßsstab ist gegenwärtig aufgrund der dem Gericht zugrunde liegenden Erkenntnismittel von systemischen Mängeln im Asylsystem Bulgarien auszugehen. Denn die Kamer geht davon aus, dass in Bulgarien derzeit die reale Gefahr besteht, dass der Kläger in seinem subjektiven Recht auf Sachprüfung seines Asylantrags nach Art. 18 Abs. 2 und Art. 3 Abs. 1 Satz 1 Dublin-III-VO verletzt wird und dadurch die Geltendmachung seines Asylrechts vereitelt wird. […]