VG Köln 22. Kammer / Az.: 22 L 1302/15.A / Ungarn

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Es bestehen […] bei summarischer Prüfung auf der Grundlage aktueller Erkenntnisse konkrete Anhaltspunkte dafür, dass systemische Mängel des Asylsystems in Ungarn derzeit einer Überstellung der Antragsteller entgegenstehen (vergleiche Art. 3 Abs. 2 Dublin III-Verordnung). Solche liegen vor, wenn es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für (Asyl-)Antragsteller in dem zuständigen Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der EU-Grundrechte Charta (EU-GR-Charta) mit sich bringen (Unterabsatz 2) […]. Zwar sollten nach dem „Udpate“ des UNHCR von Dezember 2012 […] Mängel der ungarischen Ausländer- und Asylverfahrenspraxis mit Verabschiedung und Umsetzung von Gesetzesänderungen mit Wirkung von Januar 2013 an entschärft werden […]. Und auf eine Parlamentarische Anfrage vom 22. Juli 2013 hat die Europäische Kommission mitgeteilt, als Hüterin der Verträge werde sie nicht zögern, geeignete Schritte einzuleiten, falls sich herausstellen solle, dass Ungarn gegen EU-Recht verstoße […]. Gleichwohl bedarf aufgrund jüngerer Erkenntnisse die aktuelle Praxis beim Umgang mit den Antragstellern, die im Rahmen des Dublin-III Verfahrens an Ungarn überstellt werden, noch näherer Überprüfung. Nach der sich im Zuge der Gesetzesänderungen von Januar 2013 inzwischen herausstellenden tatsächlichen Asylpraxis Ungarns werden danach jedenfalls Dublin-Rückkehrer nahezu ausnahmslos inhaftiert, wobei sowohl hinsichtlich des Verfahrens der Haftanordnung als auch hinsichtlich der hiergegen bestehenden Rechtsschutzmöglichkeiten Anhaltspunkte für eine grundrechtsverletzende, willkürliche und nicht dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechende Inhaftierungspraxis bestehen. Dies gilt vor allem hinsichtlich der Inhaftierung von besonders schutzbedürftigen Personen […]. Es besteht die ernstliche Befürchtung der systematisch willkürlichen und unverhältnismäßigen Inhaftierung von Dublin-Rückkehrern […]. Hinzu kommt, dass sich die Zahl der Asylantragsteller in Ungarn allein in den ersten Monaten des Jahres 2015 auf annähernd 60.000 gesteigert hat. Die derzeitige Regierung hatte daher laut Pressemeldungen vom 24.6.2015 inzwischen die Regelungen der Dublin-III VO für Ungarn „aus technischen Gründen“ zunächst aussetzen wollen, offensichtlich um eine Rücküberstellung von Erstantragstellern, die zwischenzeitlich in andere EU-Länder weitergereist waren, ablehnen können […]. Erst auf massive Intervention anderer EU-Staaten sowie der EU-Kommission ließ sie dann kurz darauf mitteilen, letztlich nur die Aufnahme von Flüchtlingen aus anderen Mitgliedsstaaten ablehnen zu wollen, die – wie etwa im Falle von Griechenland – dort erstmals in das Gebiet der Union gelangt seien […]. Ob vor diesem Hintergrund der Antragsteller im Rahmen seines Asylverfahrens in Ungarn eine seine grundlegenden Menschenrechte wahrende Behandlung erfahren würde, ist danach derzeit weitgehend unklar, so dass die bestehenden Zweifel am Asyl- und Aufnahmeverfahren in Ungarn einer Prüfung im Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben müssen.

Zu den Kapazitätsengpässen bei Dublin-Überstellungen nach Ungarn siehe auch diesen und diesen Artikel bei Bordermonitoring Ungarn.