VG München 24. Kammer / Az.: M 24 S 15.50508 / Ungarn

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Das Gericht geht vor diesem Hintergrund mit dem VG Münster beim ungarischen Asylsystem derzeit von einer Kombination sowohl äußerst restriktiver Asylverfahrensregelungen als auch von einer dramatischen Unterbringungsituation aus. Bei der Zusammenschau der in jüngerer Zeit entstandenen Kapazitätsprobleme einerseits und der gegenüber der bisherigen Rechtslage zu Lasen der Asylbewerber im Asylverfahrensablauf sowie bei den Inhaftierungsmöglichkeiten vorgenommenen Verschlechterungen bestehen nach Ansicht des Gerichts derzeit systemische Schwachstellen des ungarischen Asylverfahrens sowie der Aufnahmebedingungen, die die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.v. Art 4 Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) bergen. Dabei ist zu sehen, dass der UNHCR, dessen Wertungen im Kontext der Prüfung des Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin-III-VO maßgebliches Gewicht zukommt […], bereits im Vorfeld der zwischenzeitlich beschlossenen Gesetzesänderungen Bedenken angemeldet und sich insoweit als „tief besorgt“ (deeply concerned) bezeichnet hatte (vgl. den im Internet veröffentlichten englisch-sprachigen Kommentar vom 3.7.2015: UNHCR urges Hungary not to amend asylum system in haste; abrufbar unter: http://www.unhcr.org/559641846.html). Unter anderem hatte der UNHCR ausgeführt, dass das Asylsystem Ungarns bereits vor der Novelle immer restriktiver geworden war; es werde befürchtet, dass die neuen Vorschläge es Flüchtlingen unmöglich machen wird, in diesem Land Sicherheit zu suchen. Letzteres ist aus Sicht des Gerichts infolge der zwischenzeitlichen Entwicklungen derzeit anzunehmen. Nachdem der UNHCR selbst bemerkt, dass das ungarische Asylsystem vor der aktuellen Novelle zunehmend restriktiver geworden war, sieht das Gericht auch die jüngsten Verschärfungen der Haftbedingungen und insbesondere die neue Regelung zur Annullierung des Asylantrags bei über 48-stündiger Abwesenheit vom zugewiesenen Aufenthaltsort vor dem Hintergrund der vom UNHCR bereits zur früheren Rechtslage und Flüchtlingssituation geäußerten deutlichen Kritik […]. Daraus ergab sich bereits zur früheren Situation vor dem 6. Juli 2015 unter anderem, dass es Verwaltungsentscheidungen, mit denen die Asylhaft gegenüber Erstantragstellern angeordnet wird, regelmäßig an einer einzelfallbezogenen Begründung fehlte; der UNHCR ging davon aus, dass haftanordnende Entscheidungen weder den konkreten Haftgrund, noch Angaben dazu enthalten, warum die Inhaftierung aus Sicht der zuständigen Behörden im konkreten Einzellfall erforderlich und angemessen ist und keine anderen milderen Mittel in Betracht kommen, um eine Verfügbarkeit des Antragstellers im Asylverfahren sicherzustellen […]. Vielmehr sei vollkommen intransparent und daher nicht vorhersehbar, welche Asylbewerber in Ungarn verhaftet würden und welche nicht und warum […]. Dabei wurden die bestehenden Rechtsschutzmöglichkeiten gegen die Asylhaft als ineffektiv und im Ergebnis wirkungslos bewertet; selbständige Rechtsbehelfe stünden gegen die behördliche Anordnung der Asylhaft nicht zur Verfügung […]. Die Überprüfung der Haftanordnungen erfolge vielmehr im Rahmen einer automatischen gerichtlichen Haftüberprüfung in einem 60-Tag-Rhythmus, wobei für den einzelnen Überprüfungstermin regelmäßig nur wenige Minuten zur Verfügung stünden […]. Hinzu komme, dass nach einer Untersuchung die das höchste Gericht Ungarns (Kuria) in den Jahren 2011 und 2012 durchgeführt habe, die automatische Haftüberprüfung (durch dieselben Gerichte, die auch nach neuem Recht für die Überprüfung zuständig sind), lediglich in drei von 5.000 bzw. 8.000 Fällen tatsächlich zu einer Aufhebung der Haftanordnung geführt habe […]. Hinzu komme, dass dem UNHCR hinsichtlich der vom ungarischen Asylrecht seinerzeit neben der automatischen Haftprüfung dem Asylbewerber eingeräumten Möglichkeit einer „objection“, also einer Art Einspruch gegen die Anordnung der Asylhaft, seit der Wiedereinführung der Asylhaft zum 1 Juli 2013 kein einziger Fall bekannt geworden war, in dem ein solcher Einspruch tatsächlich erhoben worden sei; nach Einschätzung des UNHCR seien Asylbewerber in der Praxis überhaupt nicht über diesen Rechtsbehelf informiert bzw. seitens der zuständigen Behörden von einer Einlegung abgehalten worden mit dem Hinweis darauf, dass dieser Rechtsbehelf ungeeignet sei, die Rechtmäßigkeit der Haftentscheidung anzugreifen […]. Es kann dahinstehen, inwieweit bereits frühere Kritik des UNHCR für sich allein betrachtet hinreichte, um von systemischen Mängeln des ungarischen Asylverfahrens derart auszugehen, dass darin eine hinreichende Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung i.S.v Art 3 Unterabs. 2 Dublin-III-VO lag oder nicht. Den jedenfalls in der Zusammenschau der jüngsten Verschärfung der Inhaftierungsmöglichkeiten und der gleichzeitigen Einführung einer Annulierungsregelung bei mehr als 48-stündiger Abwesenheit vom zugewiesenen Aufenthaltsort ist von einer derartigen Gefahr auszugehen, weil gleichzeitig – von der ungarischen Regierung selbst eingeräumt – in Ungarn erhebliche Kapazitätsengpässe bestehen. Wenn nämlich die Haft während des gesamten Asylverfahrens aufrechterhalten werden kann, gleichzeitig aber keine ausreichenden Kapazitäten für die Durchführung der enorm gestiegenen Verfahrenszahlen zur Verfügung stehen, ist angesichts der bereits in der Vergangenheit zu konstatierenden geringen Rechtsbehelfsmöglichkeiten gegen Asylhaft von einer in einer Vielzahl von Fällen systemisch-unverhältnismäßigen Inhaftierungspraxis auszugehen. Weil gleichzeitig angesichts der erheblichen Kapazitätsdefizite nicht von einer hinreichenden effizienten Durchführung des Asylverfahrens ausgegangen werden kann, müssen auch tatsächlich verfolgte Asylantragsteller damit rechnen, ohne überwiegende Gründe mit einer zeitlich nicht hinreichend begrenzten Haftsituation konfrontiert zu werden, obwohl sie mit dem Asylantrag nur von ihrem Menschenrecht auch Asyl Gebrauch machen. Hierin liegt nicht nur im Hinblick auf die Asylhaft eine systemische Schwachstelle des ungarischen Asylverfahrens. Infolge der Kapazitätsengpässe ist auch nicht ersichtlich, dass diese Verfahrensweise den Zweck des Asylverfahrens, nämlich die Klärung der Frage, ob tatsächlich Asylgründe vorliegen oder nicht, maßgeblich befördern würde. Das ungarische Asylsystem in seine aktuellen Ausgestaltung ist deshalb von erheblichen Verfahrensrestriktionen gekennzeichnet, gewährleistet aber gleichzeitig nicht die Erreichung des Zwecks des Asylverfahrens. Das gilt angesichts der Neuregelung auch in Fällen, in denen keine Asylhaft angeordnet wird im Hinblick auch die Annullierungsregelung bei mehr als 48-stündiger Abwesenheit. Denn es ist nicht zu verkennen, dass eine formale Annullierungsregelung gerade bei solchen Personen, die tatsächlich Verfolgung erlitten haben, einen besonderen Druck erzeugt, von ihrer Bewegungsfreiheit keinen Gebrauch zu machen, wobei andererseits angesichts der beschriebenen erheblichen Kapazitätsengpässe auch insoweit nicht davon auszugehen ist, dass diese Einschränkung zeitlich überschaubar wäre oder ihrerseits den Zweck des Asylverfahrens befördern könnte. Auch insoweit ist einer systemischen Schwachstelle des ungarischen Asylverfahrens auszugehen. Hinzu kommt, dass die im Zeitpunkt der vorliegenden Entscheidung veröffentlichten aktuellen Stellungnahmen der Non-Government-Ogranisationen zur aktuellen Lage der Asylbewerber in Ungarn nach der am 6. Juli 2015 beschlossenen Gesetzesnovelle keine andere Einschätzung nahelegen. Insoweit macht das Gericht die Stellungnahme von proasyl „Kein Schutz für niemanden: Ungarn verabschiedet sich vom Flüchtlingsrecht“ […] zum Gegenstand des vorliegenden Verfahrens.