VG Düsseldorf / Az.: 12 K 19256/17.A / Ungarn

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Den Klägern droht im Falle einer Rückführung nach Ungarn mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK. Nach dieser Vorschrift darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe untemorfen werden. Hieraus folgen neben Unterlassungs- auch staatliche Schutzpflichten. Eine Verletzung von Schutzpflichten kommt in Betracht, wenn sich die staatlich verantworteten ebensverhältnisse von international Schutzberechtigten allgemein als unmenschlich oder erniedrigend darstellen.

Vgl. OVG NRW, Urteil vom 19. Mai 2016 — 13 A 1490/13A -‚ juris, Rdn. 86, und Beschluss vom 29. Januar 2015 – 14 A 134/15.A -‚ juris, Rdn. 11.

Die hinsichtlich der allgemeinen Lebensverhältnisse von international Schutzberechtigen bestehenden Gewährleistungspflichten hat der Europäische Gerichtshof für
Menschenrechte im Einzelnen konkretisiert. Demnach kann die Verantwortlichkeit eines Staates aus Art. 3 EMRK begründet sein, wenn der Betroffene vollständig von staatlicher Unterstützung abhängig ist und behördlicher Gleichgültigkeit gegenübersteht, obwohl er sich in so ernsthafter Armut und Bedürftigkeit befindet, dass dies mit der Menschenwürde unvereinbar ist.

Vgl. EGMR, Urteil vom 4. November 2014 – 29217/12 (Tarakhel / Schweiz), NVWZ 2015, 127, 129, Rdn. 98 m.w.N.

Dagegen verpflichtet Art. 3 EMRK die Vertragsstaaten nicht, jedermann in ihrem Hoheitsgebiet mit einer Wohnung zu versorgen. Art. 3 EMRK begründet auch keine allgemeine Verppflichtung, Flüchtlingen finanzielle Unterstützung zu gewähren oder ihnen einen bestimmten Lebensstandard zu ermöglichen.

Vgl. EGMR, Urteile vom 30. Juni 2015 – 39350/13 – (AS. / Schweiz), juris, Rdn. 27, vom 21. Januar2011 – 30696/09 (M.S.S. / Belgien u. Griechenland) -, EUGRZ 2011, 243, Rdn. 249, m. w. N., und Beschluss vom 2. April 2013 – 27725/10 (Mohammed Hussein u.a. / Niederlande u. Italien) -, ZAR 2013, 336 f., Rdn. 70; vgl. auch OVG NRW, Urteile vom 19. Mai 2016 – 13 A 1490/13A -‚ juris, Rdn. 91, und vom 7. März 2014-1 A 21/12.A -, juris, Rdn. 119.

Es verstößt demnach grundsätzlich nicht gegen Art. 3 EMRK, wenn international Schutzberechtigte den eigenen Staatsangehörigen gleichgestellt sind und von ihnen erwartet wird, dass sie selbst für ihre Unterbringung und ihren Lebensunterhalt sorgen.

Vgl. OVG NRW, Urteil vom 19. Mai 2016 – 13 A 1490/13A -, juris, Rdn. 89 ff. m.w.N.

Art. 3 EMRK gewährt von einer Überstellung betroffenen Ausländern grundsätzlich auch keinen Anspruch auf Verbleib in einem Mitgliedstaat, um dort weiterhin von medizinischer, sozialer oder anderweitiger Unterstützung oder Leistung zu profitieren. Sofern keine außergewöhnlich zwingenden humanitären Gründe vorliegen, die gegen eine Überstellung sprechen, ist allein die Tatsache, dass sich die wirtschaftlichen und sozialen Lebensverhältnisse nach einer Überstellung erheblich verschlechtern würden, nicht ausreichend, um einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu begründen.

Vgl. EGMR, Beschluss vom 2. April 2013 – 27725/10 – (Mohammed Hussein u.a. / Niederlande u. Italien), ZAR 2013, 336 f., Rdn. 71; vgl. auch OVG NRW, Urteil vom 19. Mai 2016 – 13 A 1490/13A -, juris, Rdn. 93 m.w.N.

Gegen Art. 3 EMRK verstoßende Bedingungen in einem anderen Konventionsstaat können allerdings dann anzunehmen sein, wenn ein Flüchtling völlig auf sich allein gestellt ist und er über einen langen Zeitraum gezwungen sein wird, auf der Straße zu leben, ohne Zugang zu sanitären Einrichtungen oder Nahrungsmitteln.

Vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. Mai 2017 -2 BvR 157/17 -, juris, Rdn. 15.

Das Gericht hat bei seiner diesbezüglichen Sachverhaltsaufklärung dem hohen Wert der in Art. 3 EMRK verbürgten Rechte Rechnung zu tragen und sich über die Aufnahmebedingungen umfassend zu informieren.

Vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. Mai 2017 -2 BvR 157/17 – , juris, Rdn. 16.

Dabei hat es – insbesondere dann, wenn staatliche Integrationsmaßnahmen nicht existieren – Feststellungen dazu zu treffen, ob und wie für zurückgeführte anerkannte
Schutzberechtigte zumindest in der ersten Zeit nach ihrer Ankunft die Erfüllung der von Art. 3 EMRK geschützten Grundbedürfnisse sichergestellt ist.

Vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. Mai 2017-2 BvR 157/17 —, juris, Rdn. 21.

In Anwendung dieser Maßstäbe steht nach dem in das Verfahren eingeführten Erkenntnismaterial zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die Kläger im Falle einer Überstellung nach Ungarn mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Gefahr laufen, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK ausgesetzt zu werden. Hierfür sind folgende Emägungen maßgeblich:

Die Lage für international Schutzberechtige in Ungarn hat sich durch Gesetzesänderungen zum 1. April 2016 und zum 1. Juni 2016 erheblich verschlechtert. Angesichts der vollständigen Einstellung der staatlichen Integrationsprogramme und des Fehlens jeglicher – auch nur übergangsweisen – Absicherung für die erste Zeit nach der Ankunft besteht für zurückgeführte anerkannte Schutzberechtigte mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr der Verelendung und Obdachlosigkeit.

Vgl. OVG Niedersachsen, Urteil vom 15. November 2016 – 8 LB 92/15 -, juris, Rdn. 62; VG Berlin, Beschluss vom 17. Juli 2017 – 23 L 507/17 -, juris, Rdn. 11; Hungarian Helsinki Committee: Information Note: Two Years after: What’s Left of Refugee Protection in Hungary?, S. 9 f […].

Der zulässige Verbleib von Flüchtlingen in offenen Asyleinrichtungen nach ihrer Anerkennung wurde von 60 auf 30 Tage reduziert.

Vgl. Bordermonitoringeu e.V. / Förderverein PRO ASYL e.V. (Hrsg.), Gänzlich unerwünscht – Entrechtung, Kriminalisierung und lnhaftierung von Flüchtlingen in Ungarn, Juli 2016, S. 23 […]; UNHCR, Hungary as a country of asylum, Mai 2016, S. 7 […]; aida, Country Report: Hungary, Update 2016, S. 12 […]

Die Möglichkeit, nach der Anerkennung noch für eine gewisse Zeit in der Unterkunft für Asylbewerber bleiben zu können, greift für nach Ungarn zurückgeführte Schutzberechtigte jedoch nicht. Ihre Anerkennung liegt bereits länger zurück; sie verfügen dementsprechend nicht mehr über einen Unterkunftsplatz aus der Zeit des Asylverfahrens. Ihnen droht die Obdachlosigkeit daher bereits unmittelbar ab dem Zeitpunkt ihrer Rückkehr nach Ungarn.

Vgl. Bordermonitoringeu e.V. /Förderverein PRO ASYL e.V. (Hrsg.), aaO, S. 28.

Bei der Wohnungssuche sind anerkannte Schutzberechtigte faktisch auf sich alleine gestellt. Diese Situation wird durch den Umstand verschärft, dass die Mieten in Ungarn vergleichsweise hoch sind und Vermieter in weiten Teilen des Landes sich weigern, ihnen Wohnraum zur Verfügung zu stellen.

Vgl. VG München, Urteil vom 17. Februar 2017 – M 17 K 16.34416 -, juris, Rdn. 23; aida, aaO, S. 93.

Die zeitlich begrenzte finanzielle Unterstützung im Rahmen von sogenannten „Integrationsverträgen“ und das monatliche Taschengeld in Höhe von 24 Euro wurden abgeschafft.

Vgl. Bordermonitoringeu e.V. / Förderverein PRO ASYL e.V. (Hrsg.), aaO, S. 23; UNHCR, aaO, S. 7f.; aida, aaO, S. 12.

Unterstützung bei der Integration können international Schutzberechtigte nur noch durch die Zivilgesellschaft und durch Hilfsorganisationen erlangen.

Vgl. Hungarian Helsinki Committee, aaO, S. 10.

Nichtregierungsorganisationen verfügen allerdings nicht über Kapazitäten und Mittel, um international Schutzberechtigten in Ungarn in ausreichendem Maß beistehen zu können. Soweit ersichtlich, sind sie vomiegend damit befasst, Asylantragsteller im ungarischen Asylsystem zu unterstützen. Für international Schutzberechtigte sind – wenn überhaupt – nur vereinzelte Angebote verfügbar.

Vgl. VG Berlin, Beschluss vom 17. Juli 2017 — 23 L 507/17 —, juris, Rdn. 15 m.w.N.

Die Situation unterscheidet sich damit erheblich von derjenigen in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union, in denen international Schutzberechtigte (auch) auf die Integrationsarbeit der Nichtregierungsorganisationen verwiesen werden können.

Vgl. zur Situation in Bulgarien VG Düsseldorf, Urteil vom 14. November 2016 – 12 K 5984/16A -, juris, Rdn. 51 ff.

Hinzu kommt, dass der Zugang zur Gesundheitsversorgung zwar gesetzlich gewährleistet, in der Praxis aber deutlich erschwert ist. Voraussetzung ist eine Adresskarte, welche wiederum eine gültige Meldeadresse erfordert. Angesichts der vorstehend geschilderten prekären Wohnraumsituation ist der Zugang zur medizinischen Versorgung daher faktisch mit vielen, nur schwer überwindbaren Hürden verbunden.

Vgl. VG München, Urteil vom 17. Februar 2017 — M 17 K 16.34416 —, juris, Rdn. 24; Bordermonitoringeu e.V. / Förderverein PRO ASYL e.V. (Hrsg.), aaO, S. 28.

Im Fall der Kläger kommt außerdem hinzu, dass es sich um eine junge Frau mit zwei Kleinkindern im Alter von unter drei Jahren handelt. Es ist für sie als Familie unter den aktuellen Umständen unzumutbar, nach Ungarn zurückzukehren.

Haben die Kläger mithin einen Anspruch auf die Feststellung, dass in ihrer Person ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Ungarns vorliegt, erweisen sich die Abschiebungsandrohung in Ziffer 3 und die Befristung des gesetzlichen Einreiseund Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 AufenthG in Ziffer 4 des Bescheides vom 27. November 2017 ebenfalls als rechtswidrig und sind daher aufzuheben.