VG Potsdam / Az.: VG 1 K 458/15.A / Ungarn

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Nach der Überzeugung der Kammer bestehen in Ungarn aktuell grundlegende Defizite sowohl hinsichtlich des Zugangs zum Asylverfahren als auch in Bezug auf dessen Ausgestaltung sowie im Hinblick auf die Aufnahmebedingungen während des
Asylverfahrens, die in ihrer Gesamtheit die Annahme rechtfertigen, dass der Klägerin bei einer Überstellung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder
erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 EUGrCh bzw. Art. 3 EMRK droht […].

Diese Annahme beruht insbesondere auf den gesetzlichen Entwicklungen in Ungarn der letzten Jahre. Nach der am 1. Juli 2013 in Kraft getretenen Änderung des Asylgesetzes, die die Möglichkeit einer lnhaftierung von Asylbewerbern vorsah, kam
es ab Sommer 2015 zu weiteren Gesetzesänderungen betreffend unter anderem die Einführung eines beschleunigten Verfahrens, den Rechtsschutz und die lnhaftierung sowie die Aufnahme von Serbien in eine nationale Liste sicherer Drittstaaten mit der Folge der Unzulässigkeit von Asylanträgen bei Einreise über Serbien […].

Im September 2015 wurde mit der Errichtung von Grenzzäunen zu Serbien und Kroatien ein Grenzverfahren in dort eingerichteten Transitzonen etabliert […].

Im Fall von Unzulässigkeit und im beschleunigten Verfahren ist vom Amt für Einwanderung und Staatsbürgerschaft (OIN) innerhalb von 15 Tagen zu entscheiden, im regulären Verfahren innerhalb von zwei Monaten […].

Unter Beibehaltung der im Juli 2013 eingeführten Asylhaft im Allgemeinen wurde die zulässige Haftdauer für Grenzankömmlinge ohne Papiere auf 24 statt bisher 12 Stunden heraufgesetzt und die Haftanordnung im Dublin-Verfahren erleichtert. Im Allgemeinen kann Asylhaft erstmalig maximal für 72 Stunden sowie aufgrund eines
Verlängerungsantrags um maximal 60 Tage aus im Einzelnen genannten Gründen angeordnet werden, insbesondere bei unklarer Identität und Gefahr des Untertauchens. Zuvor ist zu prüfen, ob ein milderes Mittel zur Anwendung kommen kann […]. Die maximale Dauer der Asylhaft beträgt 6 Monate, bei Folgeanträgen 12 Monate und bei Familien mit Kindern 1 Monat […]

Dublin-Rückkehrer, über deren Erstantrag bei Rückkehr noch nicht entschieden wurde, werden als Erstantragsteller behandelt. Grundsätzlich hat die Asylbehörde in Fällen, in denen Asylantragsteller während eines laufenden Asylverfahrens in einen Mitgliedstaat weiterreisen, in jedem Verfahrensstadium die Möglichkeit, entweder auf Basis der zur Verfügung stehenden Informationen eine Sachentscheidung zu treffen oder aber das Asylverfahren einzustellen. Regelmäßig wird das Asylverfahren ohne Entscheidung in der Sache eingestellt […].

Die Wiederaufnahme des Verfahrens kann bis zu neun Monate nach Einstellung des Verfahrens beantragt werden. Danach wird die Einstellung endgültig und der Asylbewerber wird wie ein Folgeantragsteller behandelt, wobei Änderungen dergestalt in Planung seien, dass der Asylantrag auch in diesem Fall vollumfänglich geprüft werde.

Angesichts dieser Ausgangslage, die nach dem vorliegenden Erkenntnismaterial ab dem Jahr 2013 bis zum jetzigen Zeitpunkt durch eine fortschreitende (gesetzliche) Intensivierung und Verschärfung gekennzeichnet ist, besteht für die Klägerin insbesondere die Gefahr, in Ungarn ohne ausreichende gesetzmäßige Anordnung und ohne effektive Rechtsschutzmöglichkeiten inhaftiert zu werden. Die Anordnung der Asylhaft ist schon nach den gesetzlichen Vorgaben in großem Umfang zulässig. Danach kann Asylhaft angeordnet werden 1. bei unklarer ldentität oder Staatsangehörigkeit, 2. bei Ausländern, die sich im Ausweisungsverfahren befinden und einen Asylantrag stellen, obwohl sie diesen zweifelsfrei bereits zuvor hätten stellen können oder um eine drohende Aufenthaltsbeendigung zu verzögern oder abzuwenden, 3. wenn der Sachverhalt des Asylbegehrens aufgeklärt werden muss und eine Aufklärung nicht ohne Haft möglich ist, speziell wenn die Gefahr des
Untertauchens besteht, 4. wenn der Asylbewerber eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, 5. wenn der Asylantrag im Flughafenbereich gestellt wurde oder 6. zur Sicherstellung der Durchführung des Dublin-Verfahrens,
wenn die ernsthafte Gefahr des Untertauchens besteht […].

Diese Formulierung der Haftgründe ist sehr weit gefasst und lässt damit Raum für eine weitreichende lnhaftierung von Asylbewerbern. Auch die tatsächliche Praxis der lnhaftierung in Ungarn wird schon länger in vielen Punkten erheblich kritisiert. So solle das OIN vor einer Haftanordnung zwar prüfen,
ob Alternativen zur Haft bestünden, hiervon würde jedoch nur in Ausnahmefällen Gebrauch gemacht; Verlängerungen würden automatisch für den Höchstzeitraum beantragt und die Haftanordnungen seien nicht individualisiert […].

Seit dem Jahr 2013 soll die Inhaftierungsquote deutlich angestiegen sein und Anfang November 2015 soll sie CHR zufolge sogar 52% gegenüber 11% im Jahr 2014 betragen haben. Schließlich wies HHC im Juni 2016 nochmals ausdrücklich darauf hin, dass Ungarn einer der wenigen Staaten in Europa sei, in dem Asylantragsteller in der Regel für mehrere Monate inhaftiert würden. Dublin-Rückkehrer würden in der Praxis regelmäßig inhaftiert […]; Zudem lässt sich den Erkenntnisquellen nicht entnehmen, dass ein effektiver
Rechtsschutz existieren würde. Insbesondere bestehen für das OIN und auch die Gerichte sehr restriktive Fristenregelungen zur Entscheidung. Diese sind nicht ausreichend, um die Durchführung eines rechtsstaatlichen Verfahrens zu
gewährleisten. Bei Fristen im Tagebereich wie dargestellt können die unverzichtbaren Anforderungen an ein solches Verfahren einschließlich Dolmetscher, Anhörung, (individualisierter) Herkunftslandinformationen etc. nicht
eingehalten werden […]; Gleiches gilt für die Rechtmittelfristen. Weiter gibt es zwar Zugang zu Rechtsberatung, in der Praxis ist diese aber den Auskünften zufolge mangels entsprechender staatlicher Finanzierung nicht verfügbar. Soweit überhaupt staatliche Anwälte bestellt seien, agierten diese passiv. Außerdem ist gegen die Verhängung von „Asylhaft“ kein gesetzlicher Rechtsbehelf vorgesehen, sondern nur eine sogenannte „Einspruchsmöglichkeit“. Nach den Informationen von UNHCR werde aber auch hiervon aus Unkenntnis kein Gebrauch gemacht. Gegen die „Einwanderungshaft“ gebe es ebenfalls keinen Rechtsbehelf, nur eine automatische
Überprüfung. Die gerichtliche Haftüberprüfung erfolge in einem „automatisierten“ Prozess alle 60 Tage durch dieselben (Straf—) Richter, die die Erstprüfung durchgeführt hätten. In der täglichen Praxis würden Entscheidungen für 5 bis 15 Häftlinge innerhalb von 30 Minuten gefällt, ohne dass eine individuelle Prüfung erfolgen könne. Die Entscheidungen seien schematisch, das Verfahren nicht individualisiert und es erfolge keine Überprüfung, ob die Haft das einzige Mittel sei. Angesichts dieser gravierenden Missstände kann der Rechtsschutz damit insgesamt gesehen nicht mehr als wirksam bezeichnet werden […].

Zwischenzeitlich ist in Ungarn am 28. März 2017 eine Gesetzesänderung in Kraft getreten, nach der für alle Asylbewerber, die älter als 14 Jahre sind, auch für diejenigen, die nicht über die serbisch-ungarische Grenze eingereist sind, das gesamte Asylverfahren – nicht wie bisher, lediglich die Zulässigkeitsprüfung über maximal 28 Tage – in den Transitzonen an der serbischen Grenze abgewickelt wird […].

Mit einer Pressemitteilung vom 10. April 2017 rief der UNHCR auf, Dublin-Überstellungen nach Ungarn auszusetzen. Es sei am 28. März 2017 ein neues Gesetz (Gesetz T/13976 über die Anpassung mehrerer Gesetze zur Verschärfung der Verfahren in den Grenzzonen) in Kraft getreten, das Asylsuchende zwangsweise interniere. Auch werde ihnen durch physische Hindernisse und eine restriktive Politik effektiv der Zugang zum Territorium und damit zum Asyl verwehrt.

Aufgrund des Vorstehenden ist das Gericht zu der Überzeugung gelangt, dass die Ablehnung des Asylantrages als unzulässig sich wegen der systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen in Ungarn als rechtswidrig darstellt und daher aufzuheben ist.