Jedoch ist die Zuständigkeit Ungarns wegen systemischer Mängel des dortigen Asylverfahrens sowie der dortigen Aufnahmebedingungen ausgeschlossen […].
Nach diesen Maßstäben bestehen in Ungarn aktuell grundlegende Defizite sowohl hinsichtlich des Zugangs zum Asylverfahren als auch in Bezug auf dessen Ausgestaltung sowie in Hinblick auf die Aufnahmebedingungen während des Asylverfahrens, die in ihrer Gesamtheit betrachtet, zur Überzeugung des Senats die Annahme rechtfertigen, dass dem Kläger bei einer Überstellung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i.S.v. Art. 4 EUGrCh bzw. Art. 3 EMRK droht […].
Bei einer Rücküberstellung nach Ungarn droht dem Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Inhaftierung ohne individualisierte Prüfung von Haftgründen […]. Die Entscheidung, ob ein Asylbewerber in Asylhaft genommen oder einer offenen Aufnahmeeinrichtung zugewiesen wird, wird nach den zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln regelmäßig ohne nachvollziehbare Gründe, mithin willkürlich, vorgenommen […]. Behördliche und gerichtliche Haftanordnungen und -prüfungen erfolgen im Regelfall
schematisch ohne Prüfung des Einzelfalls und ohne Abwägung milderer Mittel.
Die Haftbedingungen in den ungarischen Asylhaftanstalten lassen nach der bestehenden Auskunftslage ebenfalls zum Teil erhebliche Mängel erkennen […]. Die ausgelasteten, allerdings nicht (mehr) überfüllten Asylhaftanstalten […] weisen den Erkenntnismitteln zufolge zahlreiche Missstände auf. Inhaftierte Asylbewerber werden wie Strafgefangene behandelt, indem sie zu gerichtlichen Anhörungen oder anderen Terminen außerhalb der Haftanstalt mit Handschellen
und angeleint gebracht werden […]. Hygienische Mindeststandards (Duschen, Toiletten) werden teilweise nicht eingehalten und Häftlinge beklagen sich über einen zu geringen Nährwert der Mahlzeiten und den daraus resultierenden Gewichtsverlust […]. Zudem wird auch über Beschimpfungen, Schikanierungen und Gewaltanwendungen seitens des Wachpersonals […]. Im Herbst 2015 stellte die Nichtregierungsorganisation „Human Rights Watch“ bei einem Besuch von fünf Haftanstalten fest, dass dort Schwangere, begleitete und unbegleitete Kinder sowie Menschen mit Behinderungen für lange Zeit festgehalten wurden, wobei Frauen und Familien mit kleinen Kindern die Einrichtungen teilweise mit alleinstehenden Männern
teilen mussten. In der Haftanstalt „Nyirbator“ wurde die Organisation darauf aufmerksam, dass die dort inhaftierten Asylbewerber Hautausschlag und Stiche von Bettwanzen aufwiesen und bei Temperaturen von um die 5° C mit unzureichender Kleidung ausgestattet waren […]. Eine grundlegende medizinische Versorgung wird in den Asylhaftanstalten zwar angeboten […], jedoch wird nach den zur Verfügung stehenden Berichten mit den
unterschiedlichen gesundheitlichen Problemen nicht in einer auf den Einzelfall abstellenden Weise umgegangen. So werden immer wieder die gleichen Tabletten für unterschiedliche Krankheiten verabreicht […]. Zudem bestehen eine adäquate Behandlung regelmäßig erschwerende Kommunikationsprobleme auf Grund fehlender Dolmetscher […]. So berichtet die Nichtregierungsorganisation „Cordelia Foundation“ über einen im Rahmen eines Besuchs in einer Haftanstalt wahrgenommenen Fall, in dem einem syrischen
Flüchtling bei der Ankunft dessen Diabetesmedikamente abgenommen worden waren und im Rahmen der medizinischen Eingangsuntersuchung die daraufhin einsetzende Unterzuckerung nicht wahrgenommen wurde. Nachdem die Mitarbeiter der Nichtregierungsorganisation das medizinische Personal darauf aufmerksam gemacht hatten, begründeten diese den Vorfall mit dem Fehlen eines Dolmetschers für die arabische Sprache bei der Untersuchung […].
Ein weiterer systemischer Mangel besteht darin, dass sich nicht ausschließen lässt, dass Ungarn Dublin-Rückkehrer ohne inhaltliche Prüfung ihrer Asylanträge weiter nach Serbien als „sicheren Drittstaat“ abschiebt, was einen indirekten Verstoß gegen das Refoulement-Verbot des Art. 33 Abs. 1 GFK zur Folge hätte, weil Serbien seinerseits kein Asylverfahren aufweist, das eine inhaltliche Prüfung der Fluchtgründe garantiert […], Die in Ungarn gegen die Asylantragsablehnung auf der Grundlage der sicheren Drittstaatenregelung vorgesehene gerichtliche Überprüfung erweist sich nicht als Gewährung effektiven Rechtsschutzes. Die ungarische Asylbehörde hat dem aus einem sicheren Drittstaat eingereisten Asylbewerber eine Anhörungsfrist von drei Tagen einzuräumen, innerhalb derer er geltend machen kann, weshalb der Drittstaat in seinem Einzelfall nicht als sicherer Drittstatt zu qualifizieren ist, bevor sie den Antrag als unzulässig ablehnen kann […]. Dagegen hat der Asylbewerber lediglich eine Klagefrist von sieben Tagen […] Im gerichtlichen Verfahren muss er den vollen Beweis erbringen, dass er in Serbien nicht die Möglichkeit hatte, sein Asylgesuch anzubringen […], was in der Praxis schon wegen der gesetzlich vorgegebenen Entscheidungsfrist des Gerichts von acht Tagen, des faktisch
eingeschränkten Zugangs zu rechtlichem Beistand und des Ausschlusses neuen Tatsachenvortrags nahezu unmöglich sein dürfte […]. Unter anderem wegen des Ausschlusses neuen Tatsachenvortrags hat die Europäische Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn eingeleitet […]. Selbst in Fällen, in denen die ungarischen Gerichte Rechtsschutz gegen die Asylantragsablehnung gewährt haben, folgt die ungarische Asylbehörde der gerichtlichen Entscheidung offenbar nicht und lehnt die Anträge ein zweites Mal als unzulässig mit der Folge ab, dass erneut Rechtsschutz in Anspruch genommen werden muss […].
Das ungarische Asylverfahren weist weitere erhebliche Mängel auf, die den Kläger als Dublin-Rückkehrer zwar nur teilweise unmittelbar betreffen, jedoch aufzeigen, dass die zuvor ausgeführten Defizite nicht die einzigen Mängel des ungarischen Asylverfah rens sind, sondern vielmehr einen Teil von systemisch angelegten Defiziten darstellen. So hat die Europäische Kommission im Dezember 2015 ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn eingeleitet, weil zu befürchten sei, „dass es im Rahmen von Rechtsbehelfen nicht möglich ist, auf neue Fakten und Umstände zu verweisen, und
dass Ungarn Entscheidungen im Falle der Einlegung von Rechtsbehelfen nicht automatisch aussetzt, sondern dass Antragsteller bereits vor Verstreichen der Frist für die
Einlegung eines Rechtsbehelfs oder vor der Prüfung des Rechtsbehelfs effektiv gezwungen werden, ungarisches Hoheitsgebiet zu verlassen“. Außerdem bestünden „im Hinblick auf das Grundrecht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht nach Artikel 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union Bedenken
hinsichtlich der Tatsache, dass gemäß den neuen ungarischen Vorschriften zur gerichtlichen Überprüfung von Entscheidungen über die Ablehnung eines Asylantrags
eine persönliche Anhörung der Antragsteller fakultativ ist“. Zudem scheine „der Umstand, dass gerichtliche Entscheidungen von Gerichtssekretären auf vorgerichtlicher
Ebene getroffen werden, einen Verstoß gegen die Asylverfahrensrichtlinie und Artikel 47 der Grundrechtecharta zu begründen“ […]. Weiterhin dürfen die ungarischen Gerichte auf Grund einer zum 1. September 2015 in Kraft getretenen Gesetzesänderung die Entscheidungen der ungarischen Asylbehörde nicht mehr abändern, sondern diese lediglich anweisen, den Fall erneut zu prüfen, was in der Praxis
dazu führt, dass diese häufig ihre Entscheidung ohne vertiefte Prüfung lediglich wiederholt und erneut Rechtsschutz gesucht werden muss […].
Durch mehrere Gesetzesänderungen zum 1. April 2016 und 1. Juni 2016 besteht selbst für Flüchtlinge, die in Ungarn einen Schutzstatus erhalten, die Gefahr der anschließenden Verelendung und Obdachlosigkeit […). Insbesondere ist es mit Art. 3 EMRK unvereinbar, wenn sich ein Asylbewerber, der von staatlicher Unterstützung vollständig abhängig ist und sich in
einer gravierenden Mangel- oder Notsituation befindet, staatlicher Gleichgültigkeit aus gesetzt sieht […].
Sowohl die in den Jahren 2015 und 2016 beschlossenen asylrechtlichen Gesetzesänderungen als auch die politische Rhetorik der ungarischen Regierung legen den Schluss
nahe, dass es sich um bewusst zur Verringerung der Flüchtlingszahlen angelegte, systemische Mängel handelt […].
Die Ablehnung des Antrags auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens ist darüber hinaus auch deshalb rechtswidrig, weil nicht davon ausgegangen werden kann, dass eine realistische Möglichkeit besteht, dass der Kläger innerhalb von sechs Monaten nach Rechtskraft nach Ungarn überstellt werden könnte […]. Um [den] Anspruch auf effektiven Zugang
zum Asylverfahren und auf zügige Sachprüfung nicht ins Leere laufen zu lassen, hat ein Mitgliedstaat sein Selbsteintrittsrecht auszuüben, wenn die Überstellung an den an sich für zuständig erachteten Mitgliedstaat wegen dessen mangelnder Aufnahmebereitschaft aussichtslos erscheint […].
Vor diesem Hintergrund erweist sich die Abschiebungsanordnung nicht nur mangels Zuständigkeit eines anderen Staats, sondern auch deshalb als rechtswidrig, weil § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG die tatsächliche Möglichkeit der Abschiebung voraussetzt. Danach ordnet das Bundesamt, wenn der Ausländer in einen für die Durchführung des Asylver-
fahrens zuständigen Staat (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) abgeschoben werden soll, die Abschiebung in diesen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann.
Den zuvor gemachten Ausführungen zufolge kann nicht von einer realistischen Möglichkeit zur Durchführung der Abschiebung ausgegangen werden.