Archiv der Kategorie: Gerichtsentscheidung

VG Berlin 23. Kammer / Az.: VG 23 L 899.14 A / Ungarn

Download

Siehe auch die Pressemitteilung des Landes Berlin.

[Es] lässt sich nicht feststellen, dass dem Antragsteller bei einer Überstellung nach Ungarn die Gefahr einer erniedrigenden und unmenschlichen Behandlung im Sinne des Art. 4 EU-GR-Charta und Art. 3 EGMR droht. Beide Vorschriften verbieten eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung. Die Misshandlung setzt ein Mindestmaß an Schwere voraus, welches von den Umständen des Einzelfalls abhängt, wie der Dauer der Behandlung und ihren physischen und psychischen Wirkungen sowie der Person des Betroffenen. Erniedrigend ist eine Behandlung, wenn sie eine Person demütigt, es an Achtung ihrer Menschenwürde fehlen lässt oder sie herabsetzt oder in ihr Gefühle der Angst, Beklemmung oder Unterlegenheit weckt, geeignet, den moralischen oder körperlichen Widerstand zu brechen […]. Die Inhaftierung einer Person begründet als solche keine Verletzung des Art. 3 EMRK […]. Ausnahmsweise kann auch der Freiheitsentzug als solcher eine Verletzung des Art. 3 EMRK darstellen, wenn einem Häftling jede Aussicht auf Entlassung genommen wird […]. Gemessen hieran erlauben die nunmehr erstmals vorliegenden Erkenntnisse zur tatsächlichen Anwendungspraxis der gesetzlichen Neuregelung  der Asylhaft in Ungarn, welche als solche von der Kammer bisher nicht als ausreichender Beleg für ein systematisches Vergehen angesehen wurden, nicht die Feststellung unmenschlicher und erniedrigender Haftbedingungen […]. Dem Antragsteller drohen jedoch die systemische Verletzung seines Rechts auf Freiheit aus Art. 6 EU-GR-Charta […]. Nach Art. 6 EU-GR-Charta, für dessen Auslegung der Maßstab des Art. 5 EMRK heranzuziehen ist […], hat jeder Mensch das Recht auf Freiheit […]. [D]ie Vermutung, dass Ungarn im Asylverfahren das Recht auf Freiheit nach Art. 6 EU-GR-Charta achtet, [ist] auf der Grundlage der aktuellen Erkenntnisse zur tatsächlichen Inhaftierung von Asylantragstellern bei summarischer Prüfung als widerlegt anzusehen. Es besteht die ernstliche Befürchtung der systematisch willkürlichen und unverhältnismäßigen Inhaftierung von alleinstehenden und volljährigen Dublin-Rückkehrern, zu denen auch der Antragsteller zählt. Zwar verbietet Art. 5 Abs. 1 EMRK nicht grundsätzlich, auch Asylantragsteller zu inhaftieren […]. Es bestehen allerdings tatsächliche Anhaltspunkte für eine willkürliche und unverhältnismäßige Anwendungspraxis in Ungarn. Der nur begrenzte Zweck der Asylhaft findet bei deren Ausgestaltung keine hinreichende Berücksichtigung. So lässt sich die ausnahmslose Inhaftierung aller Dublin-Rückkehrer schon als solche durch die in Art. 31/A Abs. 1 des ungarischen Asylgesetzes geregelten Haftgründe kaum rechtfertigen. Auch gibt es Hinweise auf gesetzlich überhaupt nicht vorgesehene Begründungen der Haft (vgl. Pro Asyl, S. 8). Hinzukommt, dass den Inhaftierten unter Verstoß gegen Art. 5 Abs. 2 EMRK eine (verständliche) individuelle Begründung der Haftanordnung vorenthalten wird (UNHCR, S. 2; Pro Asyl, S. 8). Dies wie auch die geschilderte tatsächliche Entscheidungspraxis wecken den Verdacht einer willkürlichen und damit gesetzeswidrigen Handhabung der gesetzlich geregelten Haftgründe durch die Behörden. Die durchschnittliche Dauer der Inhaftierung über mehrere Monate (Pro Asyl, S. 1; UNHCR, S. 2) erscheint zumindest bei bestimmten Haftgründen (Identitätsfeststellung) sowie Staatsangehörigen aus anerkennungsträchtigen Herkunftsstaaten wie dem Antragsteller unverhältnismäßig. Jedenfalls erweisen sich der zeitliche Abstand der richterlichen Überprüfung der Haft wie auch die Ausgestaltung dieses Verfahrens als nicht effektiv und damit unverhältnismäßig. Gegen die Anordnung der Haft oder von Sicherungsmaßnahmen gegen einen Asylantragsteller existiert kein individuelles Rechtsmittel (UNHCR, S. 7; Pro Asyl, S. 9 f.; Auswärtiges Amt, S. 7 f.). Auch die automatische gerichtliche Haftprüfung genügt den Anforderungen nicht. Eine solche Prüfung findet wegen der pauschalen Verlängerung der Haft um den maximal zulässigen Zeitraum erst nach zwei Monaten statt und beschränkt sich auf eine durchschnittlich dreiminütige Anhörung des Betroffenen (UNHCR, a.a.O.; Pro Asyl, a.a.O.). Nach alledem erscheint eine Überstellung des Antragstellers nach Ungarn nicht zumutbar.

VG Minden 1. Kammer / Az.: 1 L 551/14.A

Download

Die Haftbedingungen bezüglich Migranten und damit auch Asylbewerbern gegenüber stehen nicht im Einklang mit internationalem und europäischen Recht […]. Nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln genügt das in Malta durchgeführte Asylverfahren gegen die geschilderten europarechtlichen Standards nicht nur um Einzelfall.  So wird zur Haftpraxis berichtet, dass alle Flüchtlinge routinemäßig in sog. Detention Centers inhaftiert würden […]. Auf besondere Schutzbedürftigkeit werde nur geachtet, wenn und soweit diese offensichtlich sei […]. Die Zustände in den Detention Centers hätten sich in den letzten Jahren zwar (teilweise) verbessert. In vielen Bereichen sei die Versorgung der Grundbedürfnisse jedoch noch lückenhaft und vor allem bei der immer vorkommenden Überbelegung inakzeptabel (vgl. auch Aden Ahmed gegen Malta, Entscheidung des EGMR vom 23.07.2913, Nr. 55352/12, HUDOC). Insbesondere sei der Zugang zu medizinischer Versorgung absolut ungenügend […]. Auch sei keine effektive Möglichkeit gegeben, eine Haftüberprüfung zu erreichen […]. Die Freilassung von Asylbewerbern erfolge in der Regel auf Grundlage einer Verwaltungsbestimmung nach einem Jahr, wenn zu diesem Zeitpunkt nicht über den Asylantrag entschieden worden sei. Die Unterbringung erfolge dann in sog. Open Detention Centers. Die Zustände dort werden ebenfalls als prekär beschrieben. Inhaftierung von unbestimmter Dauer des anschließenden Verfahrens treffe grundsätzlich auch Dublin-Rückkehrer, weil sie entweder in den Stand vor ihrer Ausreise – also in alle Regel als illegal Eingereiste – versetzt würden oder sogar wegen Flucht aus der Haft in Malta wegen illegaler Ausreise zur Strafhaft verurteilt würden (so z.B. im Fall Aden Ahmed gegen Malta ,Entscheidung des EGMR vom 23.07.2013, Nr. 55352/12, HUDOC). Zusätzlich würde die Situation von Dublin-Rückkehrern dadurch erschwert, dass der monatliche Unterstützungsbeitrag von regulär ca. 130,00 Euro auf ca. 80,00 Euro gekürzt werde, womit sich eine Person maximal „so gerade ernähren“ könne (Auskunft der Deutschen Botschaft Valletta vom 02.02.2012). Dies wiege umso schwerer, weil Asylsuchende die Kosten für die Inanspruchnahme von medizinischen Dienstleistungen und Medikamenten – solche überhaupt erhältlich seien – teilweise selbst tragen müssten […]. Es spricht vieles dafür, dass es sich bei den geschilderten Haftbedingungen nicht nur um Einzelfälle handelt, die Schutzsuchende vereinzelt oder zufällig treffen. Angesichts dieser Erkenntnislage kann von der Vermutung, dass den Asylsuchenden in Malta eine Behandlung zukommt, die den Erfordernissen der Grundrechtescharta, der Genfer Flüchtlingskonventionen und er Europäischen Menschenrechtskonvention entspricht, nicht mehr ohne Weiteres ausgegangen werden, weil hinreichenden Mängel des Aufnahmeverfahrens uns seiner Aufnahmebedingungen vorliegen.

VG Köln 8. Kammer / Az. 8 L 2423/14.A

Download

Insbesondere ist derzeit nicht sichergestellt, das eine mögliche konkrete Gesundheitsgefährdung des Antragstellers durch die Abschiebung nach Malta hinreichend sicher ausgeschlossen ist […]. [H]ier [ist] zu beachten, dass der Antragsteller fachärztliche Bescheinigungen vorgelegt hat, nach denen er unter einer Lungentuberkulose und schweren depressiven Störungen leidet. Es bestehen hingegen keinerlei Anhaltspunkte, dass sich das Bundesamt vergewissert hat, dass der Antragsteller in Malta konkret Zugang zu einer diesbezüglich hinreichenden ärztlichen Versorgung hat.  Mit Blick auf die Auskunftslage zu Malta […] ist jedenfalls im Lichte des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes (GG) zu fordern, dass das Bundesamt die notwendigen Vorkehrungen trifft, damit eine Abschiebung verantwortet werden kann. Dies kann gebieten, sicherzustellen, dass erforderliche Hilfen rechtzeitig nach der Ankunft in Malta zur Verfügung stehen […]. Da dies vorliegend trotz konkreter Anhaltspunkte für Gesundheitsgefahren derzeit nicht gewährleistet ist, steht der Abschiebung des Antragstellers damit gegenwärtig der Schutz des Grundrechtes aus Art. 2 Abs. 1 GG entgegen.

VG Potsdam 6. Kammer / Az.: VG 6 K 1454/14.A

Download

Im Falle des Antragstellers stand und steht nicht fest, dass eine Abschiebung nach Ungarn durchgeführt werden kann. Die Voraussetzungen des einschlägigen Rücknahmeabkommens sind nicht nachweisbar erfüllt. Gemäß Art. 4 des Abkommens zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Ungarn über die Rückübernahme/Rücknahme von Personen an der Grenze (Rückübernahmeabkommen) (BGBI II 1999, 90 ff.) übernimmt jede Vertragspartei auf Antrag der anderen Vertragspartei ohne besondere Formalitäten die Person, die nicht die Staatsangehörigkeit einer Vertragspartei besitzt (Drittstaatenangehöriger), wenn sie die im Hoheitsgebiet der ersuchenden Vertragspartei geltenden Voraussetzungen für die Einreise und den Aufenthalt nicht erfüllt und nachgewiesen oder glaubhaft gemacht wird, dass die Person über einen gültigen durch die andere Vertragspartei ausgestellten Aufenthaltstitel verfügt. Gemäß Art. 4 Abs. 2 Rückübernahmeabkommen besteht die Rückübernahmeverpflichtung nicht gegenüber einem Drittstaatenangehörigen, der aus einem Staat gekommen ist, mit dem die ersuchendene Vertragspartei eine gemeinsame Grenze hat. Bereits aus diesem Grund erscheint es fraglich, ob die Bundesrepublik Deutschland nach dem Rückübernahmeabkommen den Antragsteller nach Ungarn abschieben darf, weil dieser augenscheinlich über Österreich in die Bundesrepublik  Deutschland eingereist ist. Gemäß Art 5 Abs. 1 Satz 1 muss der Antrag auf Übernahme innerhalb von vier Monaten nach Kenntnis der jeweiligen Behörden von der rechtswidrigen Einreise oder des rechtswidrigen Aufenthalts des Drittstaatenangehörigen gestellt werden. Auch hier ist fraglich, ob nicht durch das lange Zuwarten der Bundesrepublik Deutschland diese ihren Rücknahmeanspruch verloren hat. Die kontrollierte Übernahme des Drittstaatsangehörigen erfolgt gemäß Art. 5 Abs. 1 Satz 3 Rückübernahmeabkommen unverzüglich, längstens jedoch innerhalb einer Frist von drei Monaten, nachdem die ersuchte Vertragspartei der Übernahme zugestimmt hat. Jedenfalls an dieser Voraussetzung fehlt es offenkundig. Die Bundesrepublik Deutschland hat an die Republik Ungarn vor Erlass der Abschiebungsanordnung im angegriffenen Bescheid vom 13. Mai 2014 kein Übernahmeersuchen gerichtet. Damit liegen die Tatbestandsvoraussetzungen für eine Abschiebungsanordnung nicht vor, denn es steht nicht fest, dass eine Abschiebung des Antragstellers nach Ungarn überhaupt durchgeführt werden kann.

Das Rückübernahmeabkommen steht hier zum Download zur Verfügung.

VG Stade 1. Kammer / Az.: 1 B 385/14

Download

Die den genannten Entscheidungen zu Grunde liegenden Erkenntnismittel werfen aber die Frage auf, ob diese Einschätzung auch für einen Schutzsuchenden gilt, der – wie der beinamputierte Antragsteller – körperlich beeinträchtigt ist. Die Klärung der Frage, ob der Antragsteller mit Rücksicht auf seine Behinderung im Falle der Überstellung nach Malta in eine mit Art. 4 GR-Charta und Art. 3 EMRK unvereinbare Situation geraten würde, ist dem Verfahren in der Hauptsache vorzubehalten.

VG Darmstadt 4. Kammer / Az.: 4 L 1867/13.DA.A

Download

Wenn die Antragsgegnerin im angefochtenen Bescheid in diesem Zusammenhang darauf hinweist, dass die Lebensbedingungen auf Malta für junge, alleinstehende Männer akzeptabel seien, sich die Unterbringung in – teilweise allerdings provisorischen und überbelegten – Einrichtungen in den letzten drei Jahren augenfällig verbessert habe und Gründe für eine Annahme von systemischen Mängeln im maltesischen Asylverfahren nicht vorlägen, kann sich das Gericht dieser Sichtweise nicht anschließen. Ausgehend von den desolaten bis desaströsen Aufnahmebedingungen für Flüchtlinge auf Malta in den Jahren bis etwa 2011 [Auflistung einer Reihe von Berichten], mag sich, wie die Antragsgegnerin meint, diese Situation seitdem verbessert haben. Gleichwohl ist die anscheinend noch weit entfernt von akzeptablen, d.h. solchen Zuständen, wie sie EU-weit als Mindeststandards, insbesondere grundrechtskonform einzustufen sind.

VG Braunschweig 7. Kammer / Az.: 7 B 185/13

Download

[I]m Einzellfall des Antragstellers [ist] zu berücksichtigen, dass dieser bereits einmal nach Malta zurückgeschoben wurde und er dabei nach seinem bisher nicht widerlegten Vortrag Umstände erlebt hat, die einer Aufklärung im Hauptsacheverfahren geboten erscheinen lassen. Der Antragsteller hat nämlich vorgetragen, dass er nach seiner Zurückschiebung nach Malta am 07.03.2013 dort bis Juli 2013 ohne jegliche gesundheitliche Versorgung und ohne soziale Unterstützung auf der Straße gelebt habe. Er habe im Flüchtlingscamp keine Aufnahme gefunden, weil die Verantwortlichen ihm den Zutritt zu dem Camp mit de rBegründung verweigert hätten, er habe dies vorher verlassen. Er sei obdachlos, ohne Aufenthaltserlaubnis, ohne Geld, ohne Arbeit ohne Arbeitserlaubnis und ohne gesundheitliche Versorgung geblieben. Er habe mit anderen Flüchtlingen in einem zerstörten Haus gelebt und dieses tagsüber verlassen müssen. Unregelmäßig habe er am Abend in der Kirche zu Essen finden können.

EGMR / Az.: 55352/12

Download

Aus der Pressemitteilung des EGMR:

In today’s Chamber judgment in the case of Aden Ahmed v. Malta (application no. 55352/12), which is not final, the European Court of Human Rights held, unanimously, that there had been:

a violation of Article 3 (prohibition of inhuman or degrading treatment) of the European Convention on Human Rights; and,

a violation of Article 5 §§ 1 and 4 (right to liberty and security) of the Convention.

The case concerned a Somali national, Ms Ahmed, and her detention in Malta after entering the country irregularly, by boat, to seek asylum in February 2009. This is the first time the Court found a violation of Article 3 against Malta concerning immigration detention conditions. The Court was concerned about the conditions in which Ms Ahmed was detained in Lyster Barracks detention centre (Hal Far), notably the possible exposure of detainees to cold conditions, the lack of female staff in the detention centre, a complete lack of access to open air and exercise for periods of up to three months, an inadequate diet, and the particular vulnerability of Ms Ahmed due to her fragile health and personal emotional circumstances. Taken as a whole, those conditions, in which she had lived for 14 and a
half months as a detained immigrant, amounted to degrading treatment. Moreover, deportation proceedings were not in progress while Ms Ahmed was being detained and the Maltese authorities had taken no steps whatsoever to remove her, so her continued detention for 14 and half months was therefore unlawful. The Court also found that the domestic remedies in Malta had not provided Ms Ahmed with a speedy review of the lawfulness of her detention.

VG München 23. Kammer / Az.: M 23 E 12.30743

Download

Auch ein Anordnungsgrund ist gegeben, weil dem Antragsteller die Rückführung nach Ungarn unmittelbar bevorsteht und damit eine Eilbedürftigkeit für die Inanspruchnahme vorläufigen Rechtsschutzes vorliegt. So wäre bereits die Erreichbarkeit des Antragstellers in Ungarn für die Durchführung des Hauptsacheverfahrens nicht sichergestellt, sollte – wie von ihm behauptet und durch den Bericht des UNHCR gestützt – die konkrete Gefahr bestehen, dass er ohne Durchführung eines Asylverfahrens in Ungarn unmittelbar nach Serbien zurückgeschoben wird. Der Antragsteller muss somit bei einer Überstellung nach Ungarn Rechtsbeeinträchtigungen befürchten, die nach Abschluss eines Hauptsacheverfahrens nicht mehr verhindert oder rückgängig gemacht werden könnten, so dass auch ein Anordnungsgrund glaubhaft vorliegt und eine Verweisung auf ein durchzuführendes Hauptsacheverfahren nicht möglich ist.