Eine Abschiebungsanordnung ist nur rechtmäßig, wenn zum maßgeblichen Zeitpunkt der Sach- und Rechtslage, also der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) feststeht, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann. Dies ist vorliegend nicht der Fall. Die Republik Ungarn hat zwar am 21.03.2013 gemäß Art. 4 RÜA der Rückübernahme des Klägers zugestimmt. Gemäß Art. 5 Abs 1 Satz 3 RÜA erfolgt die kontrollierte Übernahme sodann unverzüglich, längstens jedoch innerhalb einer Frist von drei Monaten, nachdem die ersuchte Vertragspartei der Übernahme zugestimmt hat. Diese Frist ist abgelaufen. Sie kann zwar gemäß Art 5 Abs. 1 Satz 4 RÜA im Falle rechtlicher und tatsächlicher Hindernisse verlängert werden. Für seine Entscheidungsfindung muss das Gericht aber davon ausgehen, dass diese Frist nicht verlängert wurde. Auf die Anfrage des Gerichts, ob die Republik Ungarn zur Rückübernahme des Klägers bereit sei, verwies der Beklagte auf die Erklärung vom 21.03.2013 und machte geltend, dies gelte unbefristet. Daraufhin gab das Gericht dem Beklagten unter Hinweis auf § 5 Abs. 1 Satz 3 und 4 RÜA auf, nachzuweisen, dass die Frist entsprechend verlängert wurde, verbunden mit dem Hinweis, dass das Gericht davon ausgehe, dass eine Abschiebung nach Ungarn nicht durchgeführt werden könne, sofern dieser Nachweis nicht geführt werde. Der Beklagte beantwortete dieses Schreiben jedoch nicht. Das Gericht geht daher davon aus, dass die Frist nicht verlängert wurde, so dass eine Abschiebung des Klägers nach Ungarn unmöglich ist. Die Frage, ob eine Abschiebung des Klägers nach Ungarn gegen Art. 3 EMRK verstieße, kann daher offen bleiben.
Archiv der Kategorie: Ungarn
VG Minden 3. Kammer / Az.: 3 L 806/15.A / Ungarn
Es ist derzeit offen, ob sich im anhängigen Hauptsacheverfahren erweisen wird, dass die streitgegenständliche Abschiebungsanordnung rechtswidrig ist oder nicht. Jedenfalls nach der zum 01.08.2015 in Kraft getretenen Änderung des ungarischen Asylrechts kann nicht ausgeschlossenen werden, dass dem Antragsteller bei einer Rückführung nach Ungarn eine weitere Abschiebung nach Serbien und damit letztlich in sein Herkunftsland droht ohne dass eine den europäischen Mindestanforderungen genügende Prüfung seiner Schutzbedürftigkeit erfolgen würde. Dies würde eine Verletzung des Non-Refoulement-Gebots der Genfer Flüchtlingskonventionen und der Europäischen Menschenrechtskonvention bedeuten.
VG Frankfurt am Main 9. Kammer / 9 L 3057/15.F.A / Ungarn
Nach Einschätzung der zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung erkennbaren Sachlage würde der im Jahre 1992 geborene Antragsteller in ein defizitäres, nicht funktionierendes Asylsystem in Ungarn zurückgeschickt. Das Aufnahmesystem in Ungarn ist deutlich durch die Vielzahl von Asylsuchenden in der Europäischen Union überlastet und muss diesen quantitativ beachtlichen Ansturm das Ersteinreiseland aushalten. Dafür ist es derzeit nicht ausgelegt und genügend aufnahmebereit, was überdies staatlicherseits zu problematischen Haftanordnungen und administrativen Abwehrstrategien geführt hat. Dies hat erhebliche Auswirkungen auf die Versorgung der Asylsuchenden, wobei die Messlatte nur an die Basisversorgung gelegt wird. Obdach, Ernährung und Gesundheitsversorgung sind schon quantitativ nicht gewährleistet. Dies wird im Einzelnen in dem jüngsten Beschluss des Verwaltungsgerichts Münster vom 07.07.2015 […] unter Auswertung von Nachrichten sachbefasster Stellen ausgeführt, worauf das Gericht zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug nimmt.
VG Magdeburg 9. Kammer / 9 B 713/15 MD / Ungarn
[I]m anhängigen gerichtlichen Verfahren hat sich eine Änderung der Sach- und Rechtslage ergeben. Nach der neuerlichen Richtlinie des Bundesamtes vom August 2015 werden Dublin-Verfahren syrischer Staatsangehöriger zum gegenwärtigen Zeitpunkt weitestgehend faktisch nicht weiter betrieben. Danach wird auch bei „vollziehbaren Abschiebungsandrohungen“ und „angestoßenen Überstellungen“ das „Dublin-Verfahren abgebrochen“ und das „Selbsteintrittsrecht sofort ausgeübt“ und die „Überstellung storniert“. Warum dies im vorliegenden Fall nicht geschieht, entzieht sich der Kenntnis des Gerichts. In einer E-Mail der Antragsgegnerin an die Prozessbevollmächtigte des Antragstellers heißt es dazu, „dass das Verfahren des von Ihnen vertretenen jungen Syrers so weit vorangeschritten ist, dass die Überstellung durchgeführt wird.“ Dies stellt keine ordnungsgemäße Ermessensausübung bzw. Gleichbehandlung dar, worauf der Antragsteller einen Anspruch hat. Auch wenn es sich bei der „Richtlinie“ bzw. „Leitlinie“ um keine gesetzliche Regelung im Sinne eines formellen Gesetzes handelt, hat sich die Beklagte damit im Sinne einer Verwaltungsvorschrift eine (selbst)bindende Regelung gegeben, die gerade eine gleichmäßige Anwendung und damit eine Vereinfachung der Verfahren garantieren soll. Vom rechtlichen Regelungsgehalt der „Leitlinie“ im Sinne eines einklagbaren Anspruchs abgesehen, hat der Antragsteller einen Anordnungsanspruch aufgrund veränderter Umstände. Zum Zeitpunkt der jetzigen gerichtlichen Entscheidung haben sich die politischen Ereignisse in Ungarn im Zusammenhang mit dem Dublin-Abkommen überschlagen. Wie die Kammer bereits in ständiger Rechtsprechung ausführt, verhält sich Ungarn nicht unionskonform und es ist anzunehmen, dass Ungarn wegen der Inhaftierung von Asylbewerbern und den Mängeln in den Unterbringungen systemische Mängel im Asylsystem aufweist. Zudem hat Ungarn unlängst Verschärfungen des nationalen Asylrechts beschlossen. Unter diesen tatsächlichen Umständen kann es das Gericht nicht verantworten, den Antragsteller im Zeitpunkt dieser, innerhalb weniger Stunden unter den Gegebenheiten einer summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage zu treffenden gerichtlichen Eilentscheidung nach Ungarn abzuschieben.
Bundesverwaltungsgericht Österreich / Az.: W117 211366-1/4E / Ungarn
Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl verkennt in seiner vorliegenden Entscheidung aber, dass einzelne Aspekte der tatsächlichen Situation in Ungarn schon in den vergangenen Jahren (insbesondere bis 2012) Probleme hinsichtlich Gefährdungen der EMRK/der GRC bei Überstellungen aufgeworfen haben (was auch im Lichte der für Dublin II wie Dublin III maßgeblichen Entscheidung des EuGH in Abdullahi vom 10.12.2013, C-394/12, ein justiziables Rechts auf Abstandnahme von einer Überstellung auslösen kann) und dass vor dem Hintergrund der jüngsten gesetzlichen Entwicklungen im ungarischen Asylsystem , welche bereits bei prima /facie-Betrachtung jedenfalls in eine der damaligen Lage vergleichbare Richtung deuten, in Zusammenschau mit den allgemeinen politischen und tatsächlichen Entwicklungen innerhalb des Asylsystems Ungarns der letzten Monate eine Neubewertung der Situation erforderlich wird und ist zumindest einzelfallspezifisch oder auf gewisse Fallkonstellationen bezogen jedenfalls ein erhöhter Abklärungs- und Begründungsbedarf gegeben. Dem ist aber gegenständlich – in qualifizierter Art und Weise – nicht hinreichend Rechnung getragen worden; dies aus nachfolgenden Erwägungen: […]
Da die Schubhaftanordnung nach den angeführten Bestimmungen, aber auch nach Art 5 lit f EMRK und Art 2 Abs 1 Z 7 PerFrSchG von einem übergeordneten (Sicherungs)Zweck abhängig ist – gegenständlich von der Sicherung der Abschiebung (nach Ungarn) – dieser aber aktuell aufgrund der aktuell instabilen Situation in Ungarn nicht mehr mit hinreichender Sicherheit feststellbar ist, ist der gegenständlich angefochtene Bescheid einer wesentlichen Grundlage beraubt, sodass er mit Rechtswidrigkeit behaftet ist.
VG Potsdam 4. Kammer / Az.: 4 L 886/15.A / Ungarn
Angesichts der sich in den vergangenen Tagen und Wochen dramatisch zuspitzenden Entwicklungen hat sich der zu Entscheidung berufene Einzelrichter jedoch – unter Änderung seiner bisherigen Rechtsprechung – nicht mehr die Überzeugungsgewissheit verschaffen können, dass das Asylverfahren in Ungarn frei von systemischen Mängeln ist […]. Maßgeblich für diese Einschätzung sind zum einen die von niemandem mehr ernsthaft bestrittenen erheblichen Kapazitätsprobleme, die zwar – soweit ersichtlich – derzeit eine Reihe von europäischen Staaten, auch die Bundesrepublik Deutschland betreffen, in Ungarn aber wohl weit massiver sind […]. Hinzu kommt, dass die ungarische Regierung am 6. Juli 2015 eine Änderung des Asylrechts beschlossen hat, die am 1. August 2015 in Kraft getreten ist. Diese soll nicht nur eine erhebliche Verfahrensverkürzung auf wenige Tage unter Wegfall bzw. massiver Einschränkung der gebotenen Rechschutzmöglichkeiten sowie eine Verlängerung der Inhaftierung aller Asyl- bzw. Flüchtlingsschutzsuchenden, die in das Land illegal eingereist sind, einschließlich Frauen, Kinder und besonders Schutzbedürftiger, vorsehen. Asylsuchenden kann nach den gegenwärtigen Erkenntnissen des Gerichts infolge der Gesetzesänderungen der Zugang zu einem Asylverfahren verwehrt werden, sollten sie durch eine der Länder eingereist sein, das die ungarischen Behörden nun als „sicher“ eingestuft haben. Jeder, der auf dem Weg nach Ungarn durch eines dieser Länder gereist ist, könnte ungeachtet des jeweiligen Herkunftslandes abgewiesen werden. Zu einer ganzen Reihe neuer Ablehnungsgründe zählt daher offenbar auch die Möglichkeit, die Anträge von Asyl- und Flüchtlingsschutzsuchenden, die durch „sichere Drittländer“ gekommen sind, für unzulässig zu erklären und diese in „sichere Drittstaaten“ zurückzuführen. Auf der von der ungarischen Regierung erstellten Liste soll unter den Begriff „sichere Drittstaaten“ neben Serbien, Albanien, Mazedonien, Montenegro, Bosnien und Herzegowina und Kosovo auch Griechenland fallen. Es kann daher derzeit nicht ausgeschlossen werden, dass auch der Antragsteller bei einer Rückführung nach Ungarn von dem Risiko der Abschiebung nach Griechenland bedroht ist, ohne dass eine den europäischen Mindestanforderungen genügende Prüfung seiner Schutzbedürftigkeit erfolgen würde. Dies würde eine Verletzung des Non-Refoulement-Gebots der Genfer Flüchtlingskonventionen und der Europäischen Menschenrechtskonvention bedeuten […]. Vor diesem Hintergrund hat sich auch der UNHCR zutiefst besorgt darüber gezeigt, dass die vorgeschlagene Änderung des Asylrechts die Rücksendung von Asylbewerben in potentiell unsichere Drittstaaten ermögliche […]. Nicht unberücksichtigt bleiben können schließlich die Aktionen und Äußerungen der rechtsnationalen Regierung Ungarns der vergangenen Tage, die zur Überzeugung des zur Entscheidung berufenen Einzelrichters ein Klima schaffen, das die ohnehin kaum noch tragbare Lage der Flüchtlinge in Ungarn weiter drastisch verschärfen wird […].
Vg Düsseldorf 22. Kammer / Az.: 22 L 2944/15.A / Ungarn
Das Gericht ändert von Amts wegen den im Tenor genannten Beschluss […]. weil das Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung der Klage zum gegenwärtigen Zeitpunkt das bezüglich der Abschiebungsanordnung […]gesetzlich angeordnete Interesse an deren sofortiger Durchsetzbarkeit überwiegt […].
Vorliegend ergeben sich hinreichende Anhaltspunkte für systemische Mängel im oben genannten Sinn hinsichtlich des Asylverfahrens in Ungarn aus den zum 1. August 2015 in Kraft getretenen Änderungen des ungarischen Asylrechts, soweit sie sich aus frei zugänglichen Veröffentlichungen ergeben[…]. Insbesondere begründet die Aufnahme von Serbien – neben allen anderen an Ungarn angrenzenden Staaten – in die Liste der sicheren Drittstaaten die Gefahr, dass der betroffene Antragsteller keinen Zugang zu einem Asylverfahren erhält, in dem eine inhaltliche Prüfung seiner Fluchtgründe vorgenommen würde. Es besteht die Gefahr, dass er bei einer Überstellung nach Ungarn durch die dortigen Behörden ohne inhaltliche Prüfung seiner Fluchtgründe nach europäischen Mindeststandards beispielsweise nach Serbien abgeschoben wird. Nach den Feststellungen des Europäischen Kommissars für Menschenrechte ist jedoch jedenfalls hinsichtlich Serbien äußerst zweifelhaft, dass das dortige Asylverfahren und die dortigen Aufnahmebedingungen den europäischen Mindestanforderungen entsprechen […]. Damit liegen hinreichende Anhaltspunkte dafür vor, dass dem Antragsteller im Falle einer Abschiebung nach Ungarn eine weitere Abschiebung in ein nicht sicheres Drittland und damit in sein Herkunftsland droht, ohne ihm Zugang zu einem Verfahren auf Zuerkennung internationalen Schutzes zu gewährleisten in dem seine Fluchtgründe inhaltlich geprüft werden. Darin läge zugleich ein Verstoß gegen das Refoulement-Verboten zu Lasten des Antragstellers […].
VG Düsseldorf 8. Kammer / Az.: 8 L 2806/15.A / Ungarn
Nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO kann jeder Beteiligte die Änderung oder Aufhebung eines nach § 80 Abs. 5 VwGO erlassenen Beschlusses wegen veränderter Umstände beantragen […].
Nach den vor vorstehenden Informationen sind die Verfahren zur Bestimmung der Zuständigkeit nach dem Dublin III-Abkommen und zur Prüfung eines Asylgesuchs in Zuständigkeit des ungarischen Staates sowohl vor den ungarischen Behörden wir vor den ungarischen Gerichten etwa durch die Verkürzung von Fristen und die an Firstversäumnisse angeknüpften Sanktionen sowie neu gefasste Beweislastregeln formell wie materiell in einer Weise verändert worden, die ernsthaft befürchten lässt, dass das ungarische Asylrecht seit dem 1. August 2015 hinter den Verfahrensgarantien der Dublin III-Verordnung und den Vorgaben der Qualifikationsrichtline zurückbleibt und die in Ungarn Schutzsuchenden auch in Rechten verletzt, die ihnen auf europäischer Ebene grundrechtlich verbürgt sind.
Zudem besteht insbesondere durch die Aufnahme von Serbien – neben allen anderen an Ungarn angrenzenden Staaten – in die Liste der sicheren Drittstaaten die Gefahr, dass Schutzsuchende nach einer Überstellung nach Ungarn ohne inhaltliche Prüfung ihrer Fluchtgründe in Staaten abgeschoben werden, für die zumindest zweifelhaft ist, dass die dortigen Asylverfahren den europäischen Mindestanforderungen entsprechen und Abschiebungen in andere nicht sichere Drittstaaten oder Rückführungen in das Herkunftsland des Schutzsuchenden unter Verstoß gegen das Refoulement-Verbot ausgeschlossen sind. Nach den Feststellungen des Europäischen Kommissars für Menschenrechte bestehen jedenfalls hinsichtlich Serbien erhebliche Zweifel daran, dass das dortige Asylverfahren den europäischen Mindestanforderungen entspricht […].
VG Minden 10. Kammer / 10 L 285/15.A / Ungarn
Bei Anlegung dieses Maßstabs ergeben sich aus den am Gericht vorliegenden aktuellen Erkenntnissen ernst zu nehmende Anhaltspunkte dafür, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingen für Asylbewerber in Ungarn derzeit systemische Mängel aufweisen, aufgrund derer die Antragstellerin konkrete Gefahr läuft, im Falle ihrer Überstellung nach Ungarn einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.d. Art. 4 GR-Charta bzw. des Art. 3 EMRK ausgesetzt zu werden […].
a) Es liegen ernst zu nehmende Anhaltspunkte dafür vor, dass bestimmte Gruppen von Asylbewerbern im Falle einer Ablehnung ihres Asylantrags in Ungarn kein effektiver Rechtsschutz gewährt wird. Einem Bericht des Hungarian Helsinki Committee zufolge sind Klagen gegen Bescheide, mit denen ein Asylantrag in dem ab dem 1. August 2015 neu eingeführten beschleunigtem Verwaltungsverfahren abgelehnt wurden, innerhalb von drei Kalendertagen zu erheben […]. Dasselbe gilt für die Klage gegen einen Dublin-Bescheid, mit dem die Abschiebung in einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union verfügt wird […]. Allerdings reicht die Kürze der Klagefrist allein nicht aus, um die Gewährung effektiven Rechtsschutzes zu verneinen. Vielmehr sind sämtliche Voraussetzungen der Klageerhebung zu würdigen. Insoweit ist insbesondere von Belang, bei welcher Behörde bzw. welchem Gericht eine Klage zu erheben ist, welche Kosten damit verbunden sind, in welcher Sprache die Klageschrift zu verfassen ist und ob ggf. die Hilfe eines Übersetzers in Anspruch genommen werden kann, ob die Klagebegründung ebenfalls innerhalb der Frist einzureichen ist sowie und zu welchen Kosten ein Rechtsbeistand in Anspruch genommen werden kann […]. Die Klärung dieser Umstände muss dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben.
b) Ferner liegen ernst zu nehmende Anhaltspunkte dafür vor, dass die Möglichkeiten, Asylbewerber zu inhaftieren, aufgrund der am 1. August 2015 in Kraft getretenen Änderungen des ungarischen Asylrechts wesentlich ausgeweitet wurden. Unklar ist nach den dem Gericht vorliegenden Unterlagen allerdings, wie weit diese Änderungen im Einzelnen gehen. Nach Darstellung des Hungarian Helsinki Committee wurde die Dauer der Asylhaft („asylum detention“) auf die Dauer des gerichtlichen Verfahrens erstreckt und ein neuer Haftgrund eingeführt, wonach eine Inhaftierung nunmehr auch im Falle einer ernstlichen Gefahr des Untertauchens („serious danger of absconding“) eines Asylbewerbers möglich sein soll […]. Dagegen berichtet UNHCR über die Zulässigkeit einer anhaltenden Inhaftierung von Asylsuchenden („prolonged detention of asylum-seekers“), ohne näher auf die Voraussetzungen für eine Inhaftierung einzugehen […]. Andere Beobachter sprechen davon, dass Asylbewerber künftig wieder – wie bereits bis 2012 üblich – für die Dauer der Antragsbearbeitung inhaftiert werden können […]. Für Letzteres sprechen auch Äußerungen des Fraktionsvorsitzenden der Regierungspartei Fidesz, Antal Rogan, der sich für eine Rückkehr zur bis 2012 geltenden Rechtslage aussprach […]. Die Klärung der Fragen, ob mit den jüngsten Änderungen tatsächlich eine Rückkehr zur bis 2012 geltenden Rechtslage erfolgt ist und inwieweit von den gesetzlich eingeräumten Möglichkeiten tatsächlich Gebrauch gemacht wird, bleibt dem Hauptsacheverfahren vorbehalten.
c) Vor dem Hintergrund stark gestiegener Zugangszahlen liegen zudem ernst zu nehmende Anhaltspunkte dafür vor, dass die ungarischen Behörden derzeit nicht mehr in der Lage sind, Asylbewerber angemessen mit Unterkunft, Nahrung, Kleidung und sonstigem täglichem Bedarf […] zu versorgen und ihnen zumindest eine medizinische Notversorgung […] zukommen zu lassen […]. Die Zahl der in Ungarn gestellten Asylanträge hat sich zwischen 2012 (2.157) und 2014 (knapp 43.000) fast verzwanzigfacht […]. Im ersten Halbjahr 2015 sind bereits knapp 67.000 Asylanträge in Ungarn gestellt worden […]. Dem stehen insgesamt knapp 2.000 Aufnahmeplätze in offenen und knapp 500 Aufnahmeplätze in geschlossenen Einrichtungen gegenüber. Allerdings ist bei dieser Gegenüberstellung zu berücksichtigen, dass etwa 80 bis 90 % der Asylbewerber Ungarn nicht als das Ziel ihrer Flucht, sondern nur als Transitland betrachten und Ungarn bereits nach kurzer Zeit, oftmals bereits nach mehreren Tagen, wieder verlassen […]. Folglich kann aus dem auf den ersten Blick bestehenden Missverhältnis zwischen der Anzahl der Asylbewerber und der Anzahl der Unterbringungsplätze nicht ohne Weiteres auf einen gravierenden Kapazitätsengpass geschlossen werden […]. Dementsprechend berichtete das European Asylum Support Office, dass die Unterbringungsplätze noch im März 2015 lediglich zu 60 bis 70 % ausgelastet waren […]. Jedoch hat sich die ungarische Regierung im Juni 2015 selbst darauf berufen, dass Ungarn keine weiteren Flüchtlinge mehr aufnehmen könne, weil die dortigen Aufnahmekapazitäten erschöpft seien […]. Aktuelle Berichte über die Zustände in ungarischen Flüchtlingslagern scheinen die Einschätzung der ungarischen Regierung zu bestätigen […]. Anhaltspunkte dafür, dass die ungarischen Behörden ihre Aufnahmekapazitäten zwischenzeitlich aufgestockt haben oder entsprechende Planungen erfolgen, lassen sich den dem Gericht vorliegenden Unterlagen nicht entnehmen. Die weitere Klärung aller damit zusammenhängenden Fragen bleibt ebenfalls dem Hauptsacheverfahren vorbehalten.
d) Eine weitere zum 1. August 2015 in Kraft getretene Änderung des ungarischen Asylrechts beinhaltet den Erlass einer Regierungsverordnung, mit der u.a. Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Mazedonien, Montenegro und Serbien zu sicheren Drittstaaten erklärt werden. Asylanträge von Personen, die über eines dieser Länder nach Ungarn eingereist sind, sind als unzulässig abzuweisen. Dies betrifft nach Einschätzung des Hungarian Helsinki Committee 99 % aller nach Ungarn eingereisten Asylbewerber, da diese vorliegenden Erkenntnissen zufolge derzeit nahezu ausschließlich über Serbien nach Ungarn einreisen […]. Von dieser Änderung ist die Antragstellerin allerdings nicht betroffen, da sie nach ihren wiederholten Angaben über Italien nach Ungarn eingereist ist.
LG Kempten / Az. 42 T 1321/15 / Ungarn
Der Betroffene […] reiste unerlaubt in die Bundesrepublik Deutschland ein. Auf Antrag der beteiligten Behörde hat das Amtsgericht Kempten am 09.07.2015 Haft zur Sicherung der Zurückschiebung nach Ungarn […] angeordnet. Hiergegen wendet sich die Beschwerde des Betroffenen vom 29.07.2015. Das Amtsgericht hat der Beschwerde nicht abgeholfen […]. Zum Zeitpunkt der Entscheidung des Beschwerdegerichts ist die Haftanordnung, die das Amtsgericht im angefochtenen Beschluss vom 09.07 ausgesprochen hat, nicht zulässig. Nach § 62 3 S. 3 AufenthG ist die Sicherungshaft unzulässig, wenn feststeht, dass aus Gründen, die der Ausländer nicht zu vertreten hat, die Abschiebung nicht innerhalb der nächsten 3 Monate durchgeführt werden kann. Diese Voraussetzungen sind vorliegend gegeben:
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat zwischenzeitlich eine neue Leitlinie bekannt werden lassen, wonach das Dublin-Verfahren für syrische Staatsangehörige ausgesetzt wird. Das bedeutet, syrische Flüchtlinge, die in Deutschland Asyl beantragt haben, nicht mehr nach der Dublin-III-VO in die EU-Länder zurückgeschoben werden, in denen sie zuerst registriert worden sind, insbesondere nicht nach Ungarn. Die Leitlinie ist unbefristet. Vor diesem Hintergrund kommt in absehbarer Zeit, jedenfalls nicht innerhalb der nächsten 3 Monate, eine Zurückschiebung nach Ungarn nicht in Betracht, erst recht nicht unter Berücksichtigung der Situation der Flüchtlinge in Ungarn, die in den von der Beschwerdeführerin zitierten verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen thematisiert wird. Abgesehen davon wäre eine fortdauernde Inhaftierung des Betroffenen vor diesem Hintergrund auch unverhältnismäßig. Nach alledem war der Haftbefehl des Amtsgerichts aufzuheben.