Archiv der Kategorie: Status im Zielstaat

VG Köln 22. Kammer / Az.: 22 L 1302/15.A / Ungarn

Download

Es bestehen […] bei summarischer Prüfung auf der Grundlage aktueller Erkenntnisse konkrete Anhaltspunkte dafür, dass systemische Mängel des Asylsystems in Ungarn derzeit einer Überstellung der Antragsteller entgegenstehen (vergleiche Art. 3 Abs. 2 Dublin III-Verordnung). Solche liegen vor, wenn es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für (Asyl-)Antragsteller in dem zuständigen Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der EU-Grundrechte Charta (EU-GR-Charta) mit sich bringen (Unterabsatz 2) […]. Zwar sollten nach dem „Udpate“ des UNHCR von Dezember 2012 […] Mängel der ungarischen Ausländer- und Asylverfahrenspraxis mit Verabschiedung und Umsetzung von Gesetzesänderungen mit Wirkung von Januar 2013 an entschärft werden […]. Und auf eine Parlamentarische Anfrage vom 22. Juli 2013 hat die Europäische Kommission mitgeteilt, als Hüterin der Verträge werde sie nicht zögern, geeignete Schritte einzuleiten, falls sich herausstellen solle, dass Ungarn gegen EU-Recht verstoße […]. Gleichwohl bedarf aufgrund jüngerer Erkenntnisse die aktuelle Praxis beim Umgang mit den Antragstellern, die im Rahmen des Dublin-III Verfahrens an Ungarn überstellt werden, noch näherer Überprüfung. Nach der sich im Zuge der Gesetzesänderungen von Januar 2013 inzwischen herausstellenden tatsächlichen Asylpraxis Ungarns werden danach jedenfalls Dublin-Rückkehrer nahezu ausnahmslos inhaftiert, wobei sowohl hinsichtlich des Verfahrens der Haftanordnung als auch hinsichtlich der hiergegen bestehenden Rechtsschutzmöglichkeiten Anhaltspunkte für eine grundrechtsverletzende, willkürliche und nicht dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechende Inhaftierungspraxis bestehen. Dies gilt vor allem hinsichtlich der Inhaftierung von besonders schutzbedürftigen Personen […]. Es besteht die ernstliche Befürchtung der systematisch willkürlichen und unverhältnismäßigen Inhaftierung von Dublin-Rückkehrern […]. Hinzu kommt, dass sich die Zahl der Asylantragsteller in Ungarn allein in den ersten Monaten des Jahres 2015 auf annähernd 60.000 gesteigert hat. Die derzeitige Regierung hatte daher laut Pressemeldungen vom 24.6.2015 inzwischen die Regelungen der Dublin-III VO für Ungarn „aus technischen Gründen“ zunächst aussetzen wollen, offensichtlich um eine Rücküberstellung von Erstantragstellern, die zwischenzeitlich in andere EU-Länder weitergereist waren, ablehnen können […]. Erst auf massive Intervention anderer EU-Staaten sowie der EU-Kommission ließ sie dann kurz darauf mitteilen, letztlich nur die Aufnahme von Flüchtlingen aus anderen Mitgliedsstaaten ablehnen zu wollen, die – wie etwa im Falle von Griechenland – dort erstmals in das Gebiet der Union gelangt seien […]. Ob vor diesem Hintergrund der Antragsteller im Rahmen seines Asylverfahrens in Ungarn eine seine grundlegenden Menschenrechte wahrende Behandlung erfahren würde, ist danach derzeit weitgehend unklar, so dass die bestehenden Zweifel am Asyl- und Aufnahmeverfahren in Ungarn einer Prüfung im Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben müssen.

Zu den Kapazitätsengpässen bei Dublin-Überstellungen nach Ungarn siehe auch diesen und diesen Artikel bei Bordermonitoring Ungarn.

VG Köln 3. Kammer / Az.: 3 K 2378/15.A / Ungarn

Download

Asylsuchende unterliegen in Ungarn einem erheblichen Risiko, für einen längeren Zeitraum in Haft genommen zu werden. Dies gilt in besonderem Maße für den Personenkreis der nach der Dublin III-VO rücküberstellten Asylsuchenden, d.h. Personen , die bereits ein Asylverfahren in Ungarn durchgeführt hatten, das entweder noch nicht abgeschlossen oder mit negativem Ausgang beendet ist. Denn diese werden nach den Erkenntnissen des UNHCR […] mit Ausnahme von Familien oder besonders vulnerablen Personen bei Rückkehr nach Ungarn stets in Haft genommen […]. Ein solches Vorgehen, bei dem Dublin-Rückkehrer regelmäßig inhaftiert werden, wird den europarechtlichen Vorgaben nicht im Ansatz gerecht. Zwar sieht die Richtlinie 2013/22/EU des Europäischen Parlaments und des Rates von 26.06.2013 (Aufenthaltsrichtlinie) in Art. 8 Abs. 2 die Möglichkeit der Inhaftierung von Asylbewerbern unter anderem bei Fluchtgefahr vor. Die Normen des europäischen Flüchtlingsrechts stehen aber einer generellen Inhaftierung von Gruppen von Asylbewerbern eindeutig entgegen, vgl. etwa § 8 Abs. 1, 2 und 4 der Aufenthaltsrichtlinie [Aufnahmerichtlinie] und Art. 28 Dublin III-VO. Das von diesen Normen statuierte Erfordernis einer Einzelfallprüfung und der strikten Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes wird in Ungarn nach allen der Kammer zur Verfügung stehenden Erkenntnissen systematisch missachtet. Die flächendeckende Inhaftierung verstößt dabei nicht nur gegen das Verbot der unrechtmäßigen Inhaftierung des Art. 5 EMRK, sondern begründet angesichts der regelmäßig langen Dauer der Inhaftierung und der Umstände in der Haft die Gefahr einer unmenschlichen und entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK in Verbindung mit Art. 4 GrCh. Denn es gibt gegen die Verhängung von Asylhaft keinen effektiven Rechtsschutz des Betroffenen. Alternativen zur Haft, wie etwa das Hinterlegen einer Kaution, werden kaum in Erwägung gezogen. In der Praxis führt dies dazu, dass die Gründe für eine Inhaftierung mangels individualisierter Begründung häufig nicht nachvollziehbar sind und willkürlich erscheinen […]. Darüber hinaus ist die gerichtliche Überprüfung und Kontrolle von Haftgründen und Haftverlängerungen nach den vorliegenden Erkenntnissen völlig unzureichend. So verlängern die ungarischen Gerichte die Haftanordnungen aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung meist um die maximal mögliche Spanne von 60 Tagen. Dabei werden die Häftlinge dem Gericht in Gruppen vorgeführt, so dass für die Bearbeitung des Einzelfalls meist weniger als drei Minuten zur Verfügung stehen […]. Dass bei dieser Verfahrensweise eine individuelle Prüfung von Haftgründen nicht möglich (und nach der herrschenden ungarischen Rechtsauffassung wohl auch gar nicht erforderlich) ist, liegt auf der Hand. Folge dieser Verfahrensweise ist es, dass die maximale Haftdauer in vielen Fällen voll ausgeschöpft wird […]. Hinzu kommt, dass Asylsuchende nach den gesetzlichen Bestimmungen in Ungarn zwar Anspruch auf eine kostenlose Rechtsberatung haben, in der Praxis jedoch eine qualifizierte Beratung durch das staatliche Rechtshilfesystem aber nicht zur Verfügung steht. So ist in den Haftanstalten der Zugang zu einer Rechtsberatung praktisch nur über Vertragsanwälte des Hungarian Helsinki Committee (HHC) möglich, die die Einrichtungen einmal pro Woche besuchen, was zur Folge hat, dass nur eine Minderheit der inhaftierten Asylsuchenden Rechtsberatung erhält oder anwaltlich vertreten wird […]. Diese Bedingungen führen dazu, dass ein Asylhäftling weitgehend rechtsschutzlos gestellt ist und zu einem reinen Objekt des Verfahrens der Haftanordnung sowie deren Überprüfung und Verlängerung herabgewürdigt wird. Schließlich entsprechen die Haftbedingungen nach den vorliegenden Erkenntnisquellen nicht den Mindeststandards an eine menschenwürdige Unterbringung und Behandlung. So wird vielfach schlecht geschultes Wach- und Betreuungspersonal eingesetzt. Auch ist eine angemessene medizinische Betreuung nicht gewährleistet. Eine Betreuung durch Psychologen findet nicht statt. Zudem erfüllen einige Hafteinrichtungen nicht die hygienischen Mindeststandards. Hinzu kommen Berichte über Misshandlungen und Schickanen sowie Beschwerden über brutale Übergriffe […]. Die systematisch angewendete Praxis, Asylhäftlinge angeleint und in Handschellen bei auswärtigen Terminen (etwa bei Behörden- oder Arztbesuchen) vorzuführen, stellt bereits für sich genommen eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung dar.  Die erkennende Kammer schließt sich hierbei in vollem Umfang der Bewertung des UNHCR […] an. An dieser Einschätzung vermag auch der Umstand nichts zu ändern, dass eine derartige Behandlung bei Straftätern in Ungarn allgemein üblich ist. Den abgesehen davon, dass es bereits fraglich erscheint, ob ein „Ausführen“ von Strafgefangenen an einer Leine – zusätzlich zu einer Sicherung durch Handschellen – noch mit den Regelungen der EMRK vereinbar ist, sind Asylsuchende keine Straftäter, so dass sich eine Gleichbehandlung bereits aus diesem Grund verbietet […]. Insgesamt lassen die vorstehend dargestellte Inhaftierungspraxis sowie die dabei herrschenden Haftbedingungen nach Überzeugung der Kammer nur den Schluss zu, dass das Asylverfahren bzw. die Aufnahmebedingungen in Ungarn jedenfalls im hier maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung regelhaft derart defizitär sind, dass dem Kläger dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht […]. Dieser Einschätzung steht nicht der Umstand entgegen, dass der UNHCR trotz seiner Kritik an der Inhaftierungspraxis Ungarns kein Positionspapier herausgegeben hat, in dem die Mitgliedstaaten er Europäischen Union aufgefordert werden, von Überstellungen Asylsuchender  nach Ungarn abzusehen. Denn der UNHCR hat in seiner Stellungnahme vom 20.9.2014 an das VG Bremen ausdrücklich darauf hingewiesen, dass er derartige Empfehlungen bislang lediglich in Ausnahmekonstellationen ausgesprochen habe und aus der Tatsache des Fehlens einer Äußerung in einem UNHCR-Papier, ob bestimmte Mängel einer Überstellung in den betreffenden Staat entgegenstünden, nicht geschlossen werden könne, der UNHCR vertrete die Auffassung, dass keine einer Überstellung entgegenstehenden Umstände vorlägen oder im Einzelfall vorliegen könnten. Dies sei deshalb der Fall, weil sich die betreffenden Papiere zumeist in erster Linie mit Empfehlungen zur Verbesserung des Flüchtlingsschutzes an die betreffende Regierung richteten. Nach Auffassung des UNHCR ist es die Aufgabe der Behörden und Gerichte, im Einzelfall zu entscheiden, ob drohende Verletzungen von Art. 3 EMRK eine Überstellung in einen Mitgliedstaat ausschließen […]. Ebenso wenig gebietet der Umstand, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) mit Urteil vom 30.07.2014 (Mohammadi / Österreich, Nr. 71932/12) entschieden hat, dass zum maßgeblichen Zeitpunkt seiner Entscheidung ein Asylsuchender nicht mehr einer tatsächlichen und persönlichen Gefahr unterliegende, bei einer Überstellung nach Ungarn im Rahmen der Dublin-Verordnung einer Behandlung ausgesetzt zu sein, die Art. 3 EMRK verletzen würde. Denn diese Einschätzung beruhte im Wesentlichen auf der Erwartung, dass die zu diesem Zeitpunkt in Kraft getretenen Gesetzesänderungen in Ungarn zu einer positiven Entwicklung des ungarischen Asylsystems führen würden. Diese Erwartungen haben sich indessen – wie die oben dargelegten aktuellen Erkenntnisse zur Inhaftierungspraxis in Ungarn sowie den dort herrschenden Haftbedingungen für Asylbewerber zeigen – nicht erfüllt. Unabhängig von der menschenrechtswidrigen Inhaftierungspraxis Ungarns bestehen systemische Mängel in dem oben beschriebenen Sinn zur Überzeugung der Kammer aber auch aufgrund der Entwicklungen der jüngsten Zeit. Denn in der ersten Jahreshälfte 2015 sind nach Angaben der Regierung bis zu 72.000 Flüchtlinge nach Ungarn eingereist. Bis zum 14.07.2015 sollen es bis zu 78.000 Flüchtlinge gewesen sein […]. Andere Quellen sprechen von 61.000 Flüchtlingen […]. Die Aufnahmekapazitäten liegen bei maximal 2.500 Plätzen für Flüchtlinge. Bei einem Verhältnis von bis zu 29 Flüchtlinge im Halbjahr für einen Aufnahmeplatz ist für die Kammer schon im Ansatz nicht mehr erkennbar, wie hier eine menschenwürdige Unterbringung der Flüchtlinge gewährleistet werden soll […]. Dies gilt auch dann, wenn man berücksichtigt, dass zahlreiche Flüchtlinge, soweit sie nicht inhaftiert werden, untertauchen und in weitere EU-Länder weiterreisen. Denn angesichts der enorm hohen Zahl, die sich binnen weniger Jahre vervielfacht hat, sind die Aufnahmekapazitäten völlig unzureichend. Es ist ausgeschlossen, dass Unterkunft und Verpflegung in einem Mindestansprüchen genügenden Sinne vorgehalten werden, um die häufig traumatisierten Flüchtlinge ausreichend zu versorgen. Viele Flüchtlinge werden dementsprechend auf der Straße leben, wo sie einer feindseligen Umgebung und einer zunehmenden Anzahl an rassistischen Übergriffen ausgesetzt sind. Es bedarf vor diesem Hintergrund keiner abschließenden Entscheidung, ob durch die jüngst verabschiedeten Gesetzesänderungen weitere systemische Mängel im ungarischen Asylsystem vorliegen […]. Insbesondere die Gesetzesänderung, nach der ein Asylverfahren eingestellt werden kann, wenn Flüchtlinge für die Dauer von 48 Stunden nicht in der Aufnahmeeinrichtung, der sie zugewiesen worden sind, angetroffen werden, dürfte schon im Ansatz nicht mehr mit rechtstaatlichen Grundsätzen vereinbar sein. Dies gilt umso mehr, als die oben geschilderten chaotischen Zustände in den ungarischen Flüchtlingseinrichtungen eine solche Feststellung der Abwesenheit praktisch immer möglich machen werden. Ebenso wenig bedarf es einer Entscheidung, ob die Rückführung nach Ungarn derzeit faktisch überhaupt möglich ist. Nachdem die ungarische Regierung am 22.06.2015 angekündigt hatte, keine Flüchtlinge mehr aufzunehmen, hat sie dies zwar schon am Folgetag revidiert. Weiterhin existieren jedoch Berichte, nach denen maximal zwölf Flüchtlinge täglich durch die ungarischen Behörden im Rahmen von Dublin-Rücküberstellungen aufgenommen werden. Bei mehreren Tausend Flüchtlingen, die allein Deutschland nach Ungarn zurücküberstellen möchte, ist sehr zweifelhaft, ob es im streitgegenständlichen Einzelfall überhaupt zu einer Rücküberstellung kommen wird.

VG Braunschweig 4. Kammer / Az.: 4 B 273/15 / Ungarn

Download

[Es] ist davon auszugehen, dass Ungarn derzeit keine Flüchtlinge mehr zurücknimmt, die in andere Mitgliedsstaaten weitergereist sind. Das Verwaltungsgericht Oldenburg hat hierzu in dem Urteil vom 19.06.2015 – 13 A 1294/15 – Veröffentlichung nicht bekannt) ausgeführt:

„Hier hat das Bundesamt dem Gericht in den Verfahren 13 A 1441/15 und 13 B 1440/15 auf Nachfrage mitgeteilt, die ungarischen Behörden hätten darum gebeten, bis zum 19 Mai 2015 keine Überstellungen nach Ungarn mehr durchzuführen. Im Klageverfahren 13 A 1408/15 ist dem Gericht vom Bundesamt sodann auf detaillierte Nachfrage u.a. zu den im Jahr 2015 aus Deutschland durchgeführten Überstellungen und den Kriterien, nach welchen bestimmt wird, welche Asylsuchenden tatsächlich überstellt würden, mit Schriftsatz vom 30. April 2015 ein Vermerk folgenden Inhalts vorgelegt worden:

1. Die ungarische Dublin Unit hat den Mitgliedsstaaten am 27. April mitgeteilt, dass bis einschl. 09.06.2015 keine Überstellungen durchgeführt werden können, da die Kapazitäten erschöpft seien.

2. Im Zeitraum Januar bis März 2015 wurden 2957 Übernahmeersuchen an Ungarn gestellt, in 2300 Fällen wurde zugestimmt. Im gleichen Zeitraum erfolgten 32 Überstellungen nach Ungarn. Eine Prognose, wieviel Flüchtlinge Ungarn in diesem Jahr voraussichtlich noch zurücknehmen wird, kann von hier aus nicht abgegeben werden.

3. Für die Überstellung gibt es keine konkreten Kriterien, das Überstellungsverfahren wird zeitnah nach Vollziehbarkeit eingeleitet. Allenfalls wird die verbleibende Überstellungsfrist für eine beschleunigte Einleitung des Überstellungsverfahrens herangezogen.“

In den Verfahren […] hat das Bundesamt mit Schriftsatz vom 13. Mai 2015 u.a. mitgeteilt: „Im Übrigen wird darauf hingewiesen, dass aktuell Rückführungen nach Ungarn bis 02.07.2015 nicht möglich sind. Wann sich diese Situation ändert, ist nicht absehbar“. In einer Mitteilung des Bundesamts vom 27. Mai 2015 im Klageverfahren […] ist davon die Rede, dass die Kapazitäten der ungarischen Behörden für eine Rückführung bis Mitte Juli 2015 erschöpft seien. Im neusten Schreiben des Bundesamts vom 15. Juni 2015 im Klageverfahren […] heißt es u.a., die Kapazitäten seien bis zur 34. KW ausgeschöpft.“

Daneben hat das Verwaltungsgericht Stade in dem Beschluss vom 11.06.2015 – 6 B 815/15 – (Veröffentlichung nicht bekannt) folgendes ausgeführt:

„Aus dem vom Antragsteller in dieses Verfahren eingeführten Vermerk des Bundesamts vom 30.04.2015 […] ist ersichtlich, dass die ungarische Dublin-Unit den Mitgliedstaaten mitgeteilt hat, dass Ungarn zunächst bis zum 09.06.2015 keine Überstellungen akzeptieren wird, da die Kapazitäten dort erschöpft seien. Das Bundesamt hat gegenüber anderen Kammern dies Gerichts diesen Umstand bestätigt und ergänzend mitgeteilt, dass diese Frist zwischenzeitlich bis zum 05.08.2015 verlängert worden ist  […]. Unter welchen Umständen von dieser Praxis wieder abgerückt werden könnte, ist nicht ersichtlich. Zudem hat die Antragsgegnerin hierzu trotz Aufforderung des Gerichts keine Stellung genommen, z.B. durch Vorlage von aktuellen entgegenstehenden Erkenntnisen des für Ungarn zuständigen Liaisonbeamten.“

Diese Angaben stimmen mit den derzeitigen Presseberichten überein, aus denen sich ergibt, dass Ungarn keine Flüchtlinge mehr zurücknimmt, die in andere Mitgliedstaaten weitergereist sind (vgl. http://www.sueddeutsche.de/politik/fluechtlinge-in-europa-ungarn-schottet-sich-ab-1.2534693; http://www.spiegel.de/politik/ausland/ungarn-setzt-eu-asylbewerberregeln-ausser-kraft-a-1040329.html; http://www.faz.net/aktuell/politik/europaeische-union/ungarn-will-keine-fluechtlinge-mehr-aufnehmen-13664323.html).

Die Verwaltungsgerichte Stade (Urteil vom 24.06.2015 – 6 A 159/15) und Lüneburg (Urteil vom 26.06.2015 – 6 A 446/14) haben Abschiebungsanordnungen jeweils im Hauptsacheverfahren wegen der zu den Zeitpunkten der mündlichen Verhandlung feststehenden Nichtdurchführbarkeit  einer Abschiebung nach Ungarn aufgehoben. Unter Berücksichtigung dieser Erkenntnisse geht die Kammer davon aus, dass jedenfalls derzeit bis zum Abschluss der 34. Kalenderwoche, mithin dem 23.08.2015, eine Abschiebung nicht durchgeführt werden kann. Ob nach diesem Zeitpunkt Abschiebungen durchgeführt werden können, steht derzeit nicht fest.

VG Arnsberg 6. Kammer / Az.: 6 L 721/15.A / Ungarn

Download

§ 34 a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG bestimmt, dass die Abschiebung in einen sicheren Drittstaat oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 27 a) angeordnet werden kann, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Nach der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichtes für das Land Nordrhein-Westfalen, der sich die Kammer anschließt, bedeutet dies, dass die Abschiebungsanordnung erst dann zu erlassen ist, wenn die Rücknahmebereitschaft desjenigen Staates, in den abgeschoben werden soll, geklärt ist […]. Dem Bundesamt obliegt damit die Prüfung, dass weder zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse noch der Abschiebung entgegenstehende inlandsbezogene Vollzugsgründe, auch Duldungsgründe nach § 60 a Abs. 2 des Aufenthaltsgesetzes, vorliegen […]. Zu den tatsächlichen Vollzugshindernissen, die einen Duldungsanspruch auslösen, gehört der Umstand, dass die Abschiebung aus tatsächlichen Gründen unmöglich ist (§ 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG). Fehlende Übernahmebereitschaft des Staates, in den abgeschoben werden soll, ist ein solcher Umstand. Da die Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG nicht etwa nur zu unterlassen ist, wenn ein solcher Duldungsgrund vorliegt, sondern erst ergehen kann, wenn der Duldungsgrund ausgeschlossen ist („feststeht, dass die durchgeführt werden kann“), muss die Übernahmebereitschaft positiv geklärt sein […]. Daran fehlt es hier. Die Rückübernahme von im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen durch die Republik Ungarn richtet sich nach dem Abkommen zwischen der Regierung von Ungarn über die Rückübergabe/Rückübernahme von Personen an der Grenze (Rückübernahmeabkommen) und dem Protokoll zur Durchführung des Abkommens, in Kraft getreten am 1. Januar 1999 (BGBI Jahrgang 19999 Teil II Nr. 5). Nach Art. 4 Abs. 1 des Rückübernahmeabkommens übernimmt jede Vertragspartei auf Antrag der anderen Vertragspartei ohne besondere Formalitäten die Person, die nicht die Staatsangehörigkeit einer Vertragspartei besitzt (Drittstaatenangehöriger), wenn sie die im Hoheitsgebiet der ersuchenden Vertragspartei geltenden Voraussetzungen für die Einreise und den Aufenthalt nicht erfüllt und nachgewiesen oder glaubhaft gemacht hat, dass die Person 1. über einen gültigen, durch die andere Vertragspartei ausgestellten Aufenthaltstitel oder ein gültiges Visum verfügt oder 2. auf dem Luftweg unmittelbar aus dem Hoheitsgebiet der ersuchten Vertragspartei rechtswidrig in das Hoheitsgebiet der ersuchenden Vertragspartei eingereist ist. Art. 4 Abs. 2 des Rückübernahmeabkommens bestimmt, dass diese Rückübernahmeverpflichtung nicht gegenüber einem Drittstaatsangehörigen besteht, der 1. bei seiner Einreise in das Hoheitsgebiet der ersuchenden Vertragspartei im Besitz eines gültigen Visums oder eines anderen gültigen Aufenthaltstitels dieser Vertragspartei war oder dem nach seiner Einreise ein Visum oder ein anderer Aufenthaltstitel durch diese Vertragspartei ausgestellt wurde oder 2. aus einem Staat gekommen ist, mit dem die ersuchende Vertragspartei eine gemeinsame Grenze hat. Gemäß Art. 5 des Rückübernahmeabkommens muss der Antrag auf Übernahme innerhalb von vier Monaten nach Kenntnis der jeweiligen Behörden von der rechtswidrigen Einreise oder des rechtswidrigen Aufenthalts des Drittstaatenangehörigen gestellt werden. Die ersuchte Vertragspartei beantwortet die an sie gerichteten Übernahmeersuchen unverzüglich, längstens jedoch innerhalb von 14 Tagen. Gemäß Art 5 Abs. 2 des Rückübernahmeabkommens kann die ersuchte Vertragspartei die Übernahme ablehnen, wenn sie nachweist, dass der Drittstaatsangehörige ihr Hoheitsgebiet vor mehr als sechs Monaten verlassen hat. Unter Zugrundelegung dieser Bestimmungen steht zum gegenwärtigen und gemäß § 77 Abs. 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt die Bereitschaft zur Rückübernahme der Antragstellerinnen durch die Republik Ungarn nicht fest. Dabei kann offenbleiben, ob einer Verpflichtung Ungarns zur Rückübernahme der Antragsstellerinnen im Hinblick auf ihre Einreise in das Bundesgebiet durch die Republik Österreich bereits die Bestimmung des Art. 4 Abs. 2 Nr. 2 des Rückübernahmeabkommens entgegensteht. Denn ungeachtet dessen ergibt sich aus den von der Antragsgegnerin eingereichten Verwaltungsvorgängen nicht, dass die Antragsgegnerin den gemäß Art. 5 Abs. 1 des Rückübernahmeabkommens erforderlichen Antrag auf Übernahme gestellt hat. Dabei spricht auch Vieles dafür, dass die Frist von vier Monaten zur Stellung eines solchen Antrags bereits abgelaufen ist, da die Antragsgegnerin seit dem persönlichen Gespräch mit der Antragsstellerin zu 1) zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats am 16 Februar 2015 von der rechtswidrigen Einreise der Antragstellerinnen in das Bundesgebiet Kenntnis gehabt haben dürfte. Jedenfalls fehlt es bislang an einer Zustimmung Ungarns zur Übernahme der Antragstellerinnen. Eine solche Zustimmung eines um Übernahme ersuchten Staates ist jedoch selbst dann zu verlangen, wenn keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Übernahme verweigert werden könnte […].

Das Rückübernahmeabkommen steht hier zum Download zur Verfügung.

VG Düsseldorf 8. Kammer / Az.: 8 L 513/15.A / Ungarn

Download

Allerdings erweist sich die Abschiebungsanordnung als rechtswidrig, weil nicht i.S.d. § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG feststeht, dass die Abschiebung des Antragstellers nach Ungarn durchgeführt werden kann. Aus dem Begriff „sobald“ i.S.d. § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG folgt, das die Abschiebungsanordnung erst dann zu erlassen ist, wenn die Rückführung in allernächster Zeit auch tatsächlich möglich ist. Daher muss die Übernahmebereitschaft desjenigen Drittstaats, in den abgeschoben werden soll, geklärt sein […]. Mit der Forderung, dass feststehen muss, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann, obliegt dem Bundesamt die Prüfung, dass weder zielstaatsbezogene Abschiebehindernisse noch der Abschiebung entgegenstehende inlandsbezogene Vollzugshindernisse, auch Duldungsgründe nach § 60a Abs. 2 AufenthG, vorliegen […]. Zu den tatsächlichen Vollzugshindernissen, die einen Duldungsanspruch auslösen, gehört der Umstand, dass die Abschiebung aus tatsächlichen Gründen unmöglich ist (§ 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG). Fehlende Übernahmebereitschaft des Staates, in den abgeschoben werden soll, ist ein solcher Umstand. Da die Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG nicht etwa nur zu unterlassen ist, wenn ein solcher Duldungsgrund vorliegt, sondern erst dann ergehen kann, wenn ein solcher ausgeschlossen ist („feststeht, dass sie durchgeführt werden kann“), muss die Übernahmebereitschaft positiv geklärt sein […]. Daran fehlt es hier. Zwar hat Ungarn der Wiederaufnahme des Antragstellers mit Schreiben vom 13. Januar noch ausdrücklich zugestimmt. Zwischenzeitlich ist die Rücknahmebereitschaft jedoch fraglich. Nachdem die ungarische Regierung am 23. Juni 2015 mit der Aussage zitiert worden ist, aus technischen Gründen ab sofort keien Flüchtlinge mehr auf der Grundlage der Dublin III-Verorndung zurückzunehmen […], ist diese Ankündigung aktuellen Pressemitteilungen zufolge eine Tag später dahingehend eingeschränkt worden, dass sich dies nur auf Flüchtlinge beziehe, die über Griechenland in die Europäische Union eingereist seien und die andere EU-Staaten „irrtümlich“ nach Ungarn überstellen wollten. Im Übrigen halte Ungarn ausnahmslos alle EU-Vereinbarungen ein und erfüllte seien EU-Verpflichtungen ohne Abstriche […]. Da der Antragsteller nachweislich über Griechenland in die Europäische Union eingereist ist, steht seine Übernahme durch Ungarn nach der Dublin III-Verordnung derzeit nicht in dem oben dargelegten Sinne fest.

Zu den Kapazitätsengpässen bei Dublin-Überstellungen nach Ungarn siehe auch diesen und diesen Artikel bei Bordermonitoring Ungarn.

Amnesty International: Europe’s Borderlands: Violations against refugees and migrants in Macedonia, Serbia and Hungary

Download

This report does not aim to describe Hungary’s asylum system in detail. Instead, Amnesty International examines aspects of the system, including the detention of asylum-seekers and
refugees. Hungary’s deportation policy is also examined in the context of concerns about refoulement, and in particular, the risk of chain refoulement.

In dem Bericht wird auch auf die Situation in Serbien/Mazedonien eingegangen.

VG Potsdam 4. Kammer / Az.: VG 4 L 757/15.A / Ungarn

Download

[D]as Gericht [schließt sich]  der zur Situation in Ungarn seit der Rechtsänderung vom 1. Juli 2013 auf Grundlage der jüngeren Erkenntnisse ergangenen Rechtsprechung an […], nach der ernst zu nehmende Anhaltspunkte dafür bestehen, dass das Asyl- und Aufnahmeverfahren in Ungarn systemische Schwachstellen aufweist  mit der Folge, dass im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes das Aussetzungsinteresse der Antragsteller gegenüber dem Abschiebungsinteresse der Antragsgegnerin überwiegt. Hinzu kommt, dass ungarische Behörden erklärt haben, dass sie keinen Platz mehr hätten. Ein solches Abschiebungshindernis ist bei der Prüfung einer auf § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG beruhenden Abschiebungsanordnung zu berücksichtigen, weil die Norm ausdrücklich bestimmt, dass das Bundesamt die Abschiebung anordnet, „sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann“.

VG Bremen 3. Kammer / Az.: 3 K 296/15 / Ungarn

Download

Nach Auswertung der aktuellen Auskunftslage zum Zielstaat Ungarn sei zwar davon auszugehen, dass einem nach Ungarn abgeschobenen Asylbewerber im Regelfall nicht die Gefahr eines Refoulments im Sinne von Artikel 33 Genfer Konvention drohen werde. Allerdings werde der Kläger bei einer Abschiebung nach Ungarn mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit verhaftet werden. Das Verfahren der Haftanordnung, -überprüfung und -verlängerung werde in einer Weise praktiziert, die die Betroffenen zu reinen Objekten des Verfahrens herabwürdige. Im Zusammenspiel mit Haftbedingungen, die nicht den Mindeststandards an eine menschenwürdige Unterbringung entsprächen, drohe dem Kläger als Dublin-Rückkehrer in Ungarn mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine mit Art. 3 EMRK nicht vereinbare Behandlung. Hierzu führte der Einzelrichter in seinem Beschluss vom 30.03.2015 im Einzelnen wie folgt aus (S. 8ff.):

„(2) Asylsuchende unterliegen in Ungarn weiterhin einem erheblichen Risiko, für einen längeren Zeitraum in Haft genommen zu werden. Der UNHCR weist in einer Auskunft vom 09.05.2014 an das VG Düsseldorf zwar darauf hin, dass gegenüber den Vorjahren in 2013 ein signifikanter Rückgang der Inhaftierungen zu verzeichnen gewesen sei. Jetzt würden nur noch etwa 25% aller Asylsuchenden in Haft genommen. Der Kommissar für Menschenrechte des Europäischen Rates, Nils Muiznieks, bestätigt in einem Report vom 16.12.2014 über einen Besuch des Landes Ungarn im Juli 2014 (im Folgenden: Muiznieks-Report) diese Zahlen. Ergänzend merkt er jedoch an, dass sich zum Zeitpunkt seines Besuchs aus der Gruppe der allein reisenden männlichen Asylbewerber wohl 42 % in Haft befunden hätten (Rdnr. 155): Allerdings weist der UNHCR in mehreren Auskünften (09.05.2014 an VG Düsseldorf; 20.09.2014 an VG Freiburg; 30.09.2014 an VG Bremen) darauf hin, dass Personen, die gemäß der Dublin-Verordnung überstellt würden, bei der Einreise nach Ungarn stets inhaftiert würden. Hier scheine die Migrationsbehörde (OIN) davon auszugehen, dass die Betroffenen untertauchen und die Entscheidung des Asylantrags nicht abwarten würden, weil sie schon einmal illegal aus Ungarn ausgereist seien. Auch die Organisation Pro Asyl berichtet in einer Auskunft vom 31.10.2014 an das VG Düsseldorf von einem erhöhten Verhaftungsrisiko für Dublin-Rückkehrer in Ungarn. Demgegenüber führt das Auswärtige Amt in seiner o.a. Auskunft vom 19.11.2014 aus, dass eine regelhafte Inhaftnahme von Dublin-Rückkehrern nicht bestätigt werden könne. Die Belastbarkeit dieser Stellungnahme des Auswärtigen Amtes relativiert sich indes durch den Umstand, das sie auch in anderen Punkten in einem deutlichen Kontrast zu anderen aktuellen Auskünften, insbesondere auch zu denen des UNHCR und zu dem Muiznieks-Report, steht. Dies lässt den Schluss zu, dass in der o.a. Auskunft des Auswärtigen Amtes eher die Rechtslage in Ungarn, als die davon wohl mitunter abweichenden tatsächlichen Verhältnisse im Land beschrieben werden. Mehrere Auskunftsstellen berichten zudem darüber, dass seit September 2014 verstärkt asylsuchende Familien mit Kindern inhaftiert würden, was seit Juli 2013 zwar gesetzlich möglich, aber bisher nicht praktiziert worden sei. Die einschlägigen Hafteinrichtungen seien für die Unterbringung von Familien im Übrigen auch nicht geeignet (Hungarian Helsiki Committee -HHC-/AIDA vom 04.11.2014 „Asylum Seeking Families Detained in Hungary Against Children’s Best Interest“; Pro Asyl vom 31.10.2014 an VG Düsseldorf).

(3) Übereinstimmend kritisierten mehrere Institutionen die Inhaftierungspraxis und eine unzureichende gerichtliche Überprüfung und Kontrolle von Haftgründen und Haftverlängerungen. Der UNHCR moniert in seiner o.a. Auskunft vom 09.05.2014 an das VG Düsseldorf, dass keine Klarheit darüber bestehe, nach welchen Kriterien Haft angeordnet werde. Die Haftgründe in dem am 01.07.2013 in Kraft getretenen Asylgesetz seien sehr vage und weit formuliert worden. Auf Nachfrage hätten ungarische Behörden mitgeteilt, dass die Verteilung von Asylbewerbern auf offenen oder geschlossene Unterbringungseinrichtungen letztlich davon abhänge, wo gerade Plätze frei seien (ebenso: Muizineks-Report, Rdnr. 156). Der Muizineks-Report bemängelt, dass es keine Rechtsmittel des Betroffenen gegen die Verhängung von Asylhaft gebe. Nach den im Juli 2013 in Kraft getretenen gesetzlichen Bestimmungen könnten Asylsuchende zunächst für 72 Stunden in Gewahrsam genommen werden. Die Haft könne danach durch ein Gericht mehrfach um jeweils bis zu 60 Tage verlängert werden bis zu einer maximalen Gesamthaftzeit von sechs Monaten (Rdnr. 152). Alternativen zur Haft, wie das Hinterlegen einer Kaution, würden kaum in Erwägung gezogen. Grund für die seltene Verwendung von Kaution solle auch das Fehlen von klaren Richtlinien in Bezug auf ihre Anwendung und eine undurchsichtige und inkonsistente Handhabung im ganzen Land sein. Der Kautionsbetrag in Höhe von 2.000 Euro sei vom betroffenen Personenkreis zudem kaum aufzubringen (Rdnr. 155). Zum Verfahren der Haftprüfung führt der UNHCR in seiner o.a. Auskunft vom 09.05.2014 ergänzend aus, dass die Erfahrung gezeigt habe, dass die Gerichte die Haftanordnungen aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung meist um die maximal mögliche Spanne von 60 Tagen verlängern würden. Die Häftlinge würden den Gerichten in Gruppen vorgeführt. Für die Bearbeitung des Einzelfalls blieben so meist weniger als drei Minuten. Ein individuelle Prüfung von Haftgründen sei bei dieser Verfahrensweise nicht möglich. Eine Evaluation des Verfahrens durch eine Arbeitsgruppe des Obersten Gerichtshof habe ergeben, dass die Gerichte in allen Fällen die behördlichen Haftverlängerungen abgesegnet hätten. Die sog. EU-Aufnahme-Richtline […] sei in Ungarn nur teilweise in nationales Recht umgesetzt worden. In seiner Auskunft vom 30.09.2014 an das VG Düsseldorf hat der UNHCR die vorstehenden Feststellungen wiederholt. Weiter weist er in dieser Auskunft darauf hin, dass Haftanordnungen nicht individualisiert würden. Sie enthielten keine einzelfallbezogene Begründung, insbesondere auch nicht zu der Frage, warum die Asylhaft das einzige Mittel zur Sicherstellung der Anwesenheit des Betroffenen im laufenden Asylverfahren sei. Die gleiche Kritik äußerte Pro Asyl unter Bezugnahme auf Auskünfte des HHC in seiner Stellungnahme 31.10.2014 an das VG Düsseldorf. Ergänzend wir darin weiter ausgeführt, dass die offiziellen Angaben staatlicher Stellen zur durchschnittlichen Asylhaftdauer in Ungarn (32 Tage) wesentlich niedriger seien, als die vom HHC bei der Überprüfung festgestellten Werte. Das HHC habe in der Vergangenheit beobachtet, dass die maximale Haftdauer in vielen Fällen voll ausgeschöpft worden sei. Zudem soll nach den Feststellungen von Pro Asyl in den Haftanstalten der Zugang zu einer Rechtsberatung praktisch nur über Vertragsanwälte des HHC möglich sein, die die Einrichtungen einmal pro Woche besuchen. Das habe zur Folge, dass nur eine Minderheit der inhaftierten Asylsuchenden Rechtsberatung erhalte oder anwaltlich vertreten werde (Auskunft v. 31.10.2014, Antworten 5h und 11). Auch der UNHCR führt in seiner Stellungnahme vom 30.09.2014 für das VG Düsseldorf aus, dass Asylsuchende nach dem Gesetz zwar Anspruch auf ein kostenlose Rechtsberatung hätten, in der Praxis eine eine qualifizierte Beratung durch das staatliche Rechtshilfesystem aber nicht verfügbar sei. Eine solche Verfahrenspraxis wird den Anforderungen des Art 9 Abs. 6 der EU-Aufnahme-Richtlinie nicht gerecht, wonach Schutzsuchende in gerichtlichen Verfahren zur Überprüfung von Haftanordnungen unentgeltliche Rechtsberatung und -vertretung in Anspruch nehmen können.

(4) Die Haftbedingungen für Asylbewerber werden weiterhin vielfach kritisiert. Zu den Bedingungen in der Haft führt der UNHCR in seinen Auskünften vom 09.05.2014 an das VG Düsseldorf und vom 30.09.2014 an das VG Bremen aus, dass Dublin-Rückkehrer in die sog. Asylhaft genommen würden, die vom Office of Immigration and Nationality (OIN) betrieben werde. In der Asylhaft werde schlecht geschultes Wach- und Betreuungspersonal eingesetzt. Daneben gebe es die von der Polizei verwaltete Migrationshaft mit in der Regel besser qualifizierten Personal, in die Folgeantragsteller aufgenommen würden. Es werde von Inhaftierten kritisiert, dass in der Asylhaft keine angemessene medizinische Betreuung gewährleistet sei. Es finde hier auch keine Betreuung durch Psychologen statt. Einige Hafteinrichtungen würden nicht die hygienischen Mindeststandards (zu wenige Duschen und Bäder; unzureichende Ausstattung) erfüllen. Es geben Berichte über Misshandlungen und Schikane und Beschwerden über brutale Übergriffe. Es werde von einer steigenden Zahl von Beschwerden über die Brutalität des Wachpersonals in der Hafteinrichtung Debrecen berichtet. Es sei zudem zu kritisieren, dass die Asylhäftlinge zu Behörden- oder Arztterminen außerhalb der Hafteinrichtung wie Strafgefangene in Handschellen und an einer Leine ausgeführt würden. Der starke Zustrom von Asylsuchende im Sommer 2013 habe zu einer erheblichen Verschlechterung der hygienischen Bedienungen und der Sicherheitslage geführt. Die klaren Profile der OIN-Aufnahmeeinrichtungen hätten wegen des Asylbewerberzustroms nicht aufrechterhalten werden können. In den Einrichtungen seien nun Menschen mit gänzlich unterschiedlichem Rechtsstatus untergebracht. Pro Asyl kommt in seiner Stellungnahme vom 31.10.2014 zu einer ähnlichen Bewertung der Haftbedingungen. Ergänzend weist die Organisation allerdings darauf hin, dass sich die Insassen tagsüber innerhalb der Hafteinrichtungen frei bewegen könnten.

In einer zusammenfassenden Betrachtung der aktuellen Auskunftslage kommt der entscheidende Einzelrichter zu der Überzeugung, dass gravierende Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Antragsteller als sog. Dublin-Rückkehrer in Ungarn aufgrund oder oben beschriebenen systemischen Verfahrensmängel mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer Behandlung ausgesetzt sein wird, die Art. 3 EMRK verletzen würde.

VG Lüneburg 6. Kammer / Az.: 6 A 446/14 / Ungarn

Download

Zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 2 Satz 1 des Asylverfahrensgesetzes – AsylVfG) bestehen jedoch erhebliche Zweifel daran, dass die Abschiebung der Kläger nach Ungarn entsprechend § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG durchgeführt werden kann. Nach Pressemeldungen vom 23. Juni 2015 hat die ungarische Regierung mit Wirkung vom Dienstag, 23. Juni 2015, die Rücknahme von Flüchtlingen nach dem Dublin- Verfahren suspendiert. Das Boot sei nach Aussage des ungarischen Regierungssprechers voll. Etwa 60.000 illegale Flüchtlinge seien in diesem Jahr bereits über die grüne Grenze gekommen, daher sei man nicht mehr in der Lage, der „Flüchtlingsflut“ Herr zu werden; aus „technischen Gründen“ habe Ungarn daher in der Nacht zu Dienstag die EU-Nachbarn davon in Kenntnis gesetzt, dass die Rücksendung von Flüchtlingen nach Ungarn, die in Ungarn einen Asylantrag gestellt hätten, bis auf weiteres ausgesetzt sei (siehe „Ungarn schottet sich ab“, Süddeutsche.de vom 23.06.2015, „EU-Abkommen ausgesetzt – Ungarn nimmt keine Flüchtlinge mehr auf“ Spiegel online vom 23.06.2015). Nach telefonischer Auskunft des Bundesamts vom 24. Juni 2014 in einem Parallelverfahren liegt dem Bundesamt eine entsprechende Mitteilung der ungarischen Behörden vor, nach welcher über eine „uncertain period“ keine
Überstellungen mehr akzeptiert würden (vgl. VG Lüneburg, Beschluss vom 24. Juni 2015 – 5 B 28/15 – nicht veröffentlicht). Solange die Abschiebung der Kläger demnach aus tatsächlichen Gründen unmöglich ist, ist auch ein Vollzugshindernis im Sinne des § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG gegeben. Die tatsächliche Unmöglichkeit der Abschiebung ist dann anzunehmen, wenn für einen vorausschaubaren Zeitraum die Abschiebung ausgeschlossen ist und erst recht, wenn – wie hier – die Abschiebemöglichkeit zeitlich völlig ungewiss ist; nicht ausreichend ist hingegen eine vorübergehende zeitliche Verzögerung in Folge administrativer
Vorkehrungen (s. zu alledem BVerwG, Urt. v. 21.3.2000 – 1 C 23/99 – juris m. w. N.). Darüber hinaus liegen weiterhin betreffend die Klägerin zu 2.) außergewöhnliche humanitäre Gründe vor, die die Beklagte verpflichten, zu Gunsten der Kläger ihr Selbsteintrittsrecht nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO auszuüben […]. Vorliegend ist zwar keine Reiseunfähigkeit im engeren Sinne anzunehmen, es spricht jedoch überwiegendes dafür, dass eine Abschiebung der Antragstellerin zu 2. und des Antragstellers zu 1. – als ihrer Betreuungsperson – nach Ungarn wegen eines innerstaatlichen Abschiebungshindernisses aus in der Person der
Antragstellerin zu 2. liegenden tatsächlichen Gründen ausgeschlossen ist. Die Antragstellerin zu 2. leidet nach dem Attest und der ausführlichen psychologischen Stellungnahme der Oberärztin der Abteilung Neuropsychiatrie und Psychosomatik der Diana-Klink E. Frau F. vom 23. Oktober 2014 an einer posttraumatischen Belastungsstörung, die dringend therapeutischer Behandlung sowie eines stabilen Umfeldes bedarf […]. ie untersuchende Ärztin hat diesbezüglich nachvollziehbar geschildert, dass die Antragstellerin zu 2., die bei genaueren Nachfragen zu den Erlebnissen in der Polizeistation in Ungarn unruhig wird, kaum den Blickkontakt halten kann, stottert und um Fassung ringt, eine erneute Änderung des Aufenthaltsortes schwer verkraften würde und die Gefahr eines depressiven Rückzuges bestehe. Im Falle einer Überstellung nach Ungarn bestände demnach unabhängig von der grundsätzlich nicht im Zweifel stehenden Möglichkeit der medizinischen Versorgung von Asylbewerbern in Ungarn jedoch neben der Gefahr der Retraumatisierung insbesondere die Gefahr einer Verstärkung der depressiven Symptomatik der im Entscheidungszeitpunkt erst 13 jährigen Antragstellerin zu 2. Aus diesem Grund kann davon ausgegangen werden, dass bei einer Abschiebung der Antragstellerin zu 2. nach Ungarn derzeitig die konkrete Gefahr einer ernsthaften Schädigung ihrer Gesundheit besteht bzw. nicht hinreichend sicher ausgeschlossen werden kann.