Archiv der Kategorie: Beschluss

VG Potsdam 6. Kammer / Az.: VG 6 L 915/15.A / Ungarn

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[D]ie ungarische Regierung [hat] im Zusammenhang mit der Note der ungarischen Regierung vom 22. Juni 2015 an die Mitgliedstaaten der Europäischen Union , wonach Ungarn keine Dublin-Überstellungen mehr akzeptieren werde, weil Ungarn „voll“ sei [vgl. faz.net vom 23 Juni 2015 „Ungarn nimmt keine Flüchtlinge mehr auf“), mit der Rücknahme dieser Erklärung am 24. Juni 2015 und der gleichzeitigen Mitteilung, man sei der Auffassung, dass erstmals über Griechenland eingereiste illegale Einwanderer dorthin zurückgeschickt werden müssten (vgl. spiegelonline vom 24. Juni 2015 „Ungarn nimmt umstrittenen Flüchtlingsstopp zurück“), sowie mit seiner neueren Gesetzgebung von Anfang Juli 2015 (vgl. derStandart.at vom 6. Juli 2015 „Ungarn will ‚Dublin-Flüchtlinge‘ wieder übernehmen“) womöglich ein Asylsystem etabliert, dessen Regularien kein faires Asylverfahren mehr gewährleisten und bei dem die Gefahr besteht, dass die einzelnen Asylantragsteller zu einem bloßen Objekt staatlichen Handelns werden können. Wohl hat die ungarische Einwanderungsbehörde den anderer Mitgliedstaaten am 3. Juli 2015 mitgeteilt, es würden Dublin-Rückkehrer nun wiederaufgenommen (vgl. der Standard a.a.O.), so das die zuletzt vom Antragsteller in Zweifel gezogenen Abschiebungsmöglichkeit i.S.v. § 34 a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG wiederhergestellt worden sein dürfte. Ungarn hat jedoch seine Asylgesetzgebung nun am 6 Juli 2015 erneut verschärft mit dem ausdrücklichen Ziel, den Zustrom vom Migranten zu begrenzen. Dazu ist u.a. vorgesehen, Asylanträge von Antragstellern abzulehnen, die über als sicher eingestufte Länder nach Ungarn eingereist sind und es wird der Zeitraum zur Überprüfung von Asylanträgen eingeschränkt (eda.).  Außerdem soll ein Asylantrag abgelehnt werden, wenn Asylbewerber den Aufenthaltsort, dem sie zugewiesen sind, länger als 48 Stunden verlassen (vgl. vorarlbergernachrichten.at vom 6. Juli 2015 „Asylgesetz in Ungarn wurde nun verschärft“). In diesem Zusammenhang ist es unklar, ob z.B. Griechenland als sicherer Staat eingestuft wird und ob bzw. mit Wirkung von wann die das Verlassen eines Zuweisungsorts begründeten Folgen (auch) auf Dublin-Rückkehrer in der Situation des hiesigen Antragstellers Anwendung finden. Insbesondere die aktuelle Asylgesetzgebung steht in einem Gesamtkontext zu den unmittelbar vorangegangen regierungsamtlichen Verlautbarungen, die bei Lichte besehen darauf abgezielt haben, dass Ungarn entgegen seiner Verpflichtungen aus Art. 22 Abs. 7, 25 Abs 2 und Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO keine Dublin-Rückkehrer mehr aufnehmen und dass es sich entgegen dem Refoulement-Verbot, das hinsichtlich der Zuständigkeitsbestimmung nach der Dublin III-VO zum Ausdruck kommt, nicht mehr an die Griechenland betreffende, nach wie vor aktuelle Rechtsprechung von EGMR […] und EuGH […] halten will. Damit hat Ungarn das unionsrechtliche Vertrauen in Bezug auf die Aufnahme von Dublin-Rückkehrern in einer Weise erschüttert, die eine Aufklärung der aktuellen Situation im Hauptsacheverfahren erfordert. Nach der EuGH-Rechtsprechung (Urteil vom 21. Dezember 2011, a.aO.) ergibt die Prüfung der Rechtstexte, die das Gemeinsame Europäische Asylsystem bilden, dass dieses in einem Kontext entworfen wurde, der die Annahme zulässt, dass alle daran beteiligten Staaten, ob Mitgliedstaaten oder Drittstaaten, die Grundrechte beachten, einschließlich der Rechte, die ihre Grundlage in der Genfer Flüchtlingskonvention und dem Protokoll von 1967 sowie der EGMR finden, und dass die Mitgliedstaaten einander insoweit Vertrauen entgegenbringen dürfen. Ungarns Regierung zieht mit ihrer erklärten mangelnden Bereitschaft zur Aufnahme von Dublin-Rückkehrern angesichts der dramatischen Unterbringungssituation bezüglich aller ersteinreisenden Asylantragsteller dieses unionsrechtliche Vertrauen in Zweifel.

VG Cottbus 5. Kammer / Az.: VG 5 L 352/15.A / Ungarn

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Der ungarische Außenminister hat am 24. Juni 2015 erklärt, dass Ungarn sich weigere, Asylantragsteller, die bei ihrer Fluch als erstes Land Griechenland betreten hätten und nur dort einen Asylantrag stellen dürften, im Rahmen des Dublin-III-Abkommens von andern EU-Staaten, die diese Personen abschieben wollten, aufzunehmen (FAZ.NET und SZ.de jeweils vom 24. Juni 2015). Der Antragsteller gehört nach Aktenlage zu der Personengruppe, die erstmals in Griechenland in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten eingereist sind, wobei eine Zuständigkeit Griechenlands zwar gemäß Art. 1 Satz 2 Verordnung Nr. 604/2013 vom 26. Juni 2013 erloschen, aber gemäß Art. Abs. 2 Verordnung Nr. 604/2013 auch wieder begründet sein könnte. Letztlich bleibt jedenfalls unklar, wie die Verlautbarung des ungarischen Außenministers im Einzelnen zu verstehen ist; zudem weckt die Verlautbarung – gerade auch in Verbindung mit der Erklärung der ungarischen Regierung vom Vortag, dass „aus technischen Gründen“ (Zeit-Online vom 23. Juni 2015) – Zweifel an der Verlässlichkeit Ungarn im vorliegenden Zusammenhang. Dies geht zu Lasten der Antragsgegnerin, die beweispflichtig dafür ist, dass eine Abschiebung gemäß § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG durchgeführt werden kann und der in erster Linie die Möglichkeit eröffnet ist, eine Klarstellung der Aussagen der ungarischen Stellen herbeizuführen. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus  der dem beschließenden Gericht bekannten e-mail des Bundesamtes vom 16. Juli 2015, wonach es in der Vergangenheit keinen einzigen Fall gegeben habe, wo eine geplante und abgestimmte Rückführung durch Ungarn nicht beendet worden sei. Diese Mitteilung lässt angesichts ihrer fehlenden Spezifik gerade zu der hier interessierenden Problematik der in Griechenland ersteingereisten Personen keine tragfähigen Rückschlüsse darauf zu, ob Abschiebungen aus dieser Personengruppe derzeit möglich sind oder nicht.  Zudem heißt es in der e-mail, dass Überstellungen nach Ungarn ab September 2015 wieder geplant seien, was darauf hindeutet, dass seit der Verlautbarung  des ungarischen Außenministers vom 24. Juni 2015 gerade keine Rückführungen mehr stattgefunden haben und damit auch keine Erfahrungswerte zur ungarischen Aufnahmepraxis im hier interessierenden Zeitraum seit dem 24. Juni 2014 vorliegen.

VG München 24. Kammer / Az.: M 24 S 15.50508 / Ungarn

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Das Gericht geht vor diesem Hintergrund mit dem VG Münster beim ungarischen Asylsystem derzeit von einer Kombination sowohl äußerst restriktiver Asylverfahrensregelungen als auch von einer dramatischen Unterbringungsituation aus. Bei der Zusammenschau der in jüngerer Zeit entstandenen Kapazitätsprobleme einerseits und der gegenüber der bisherigen Rechtslage zu Lasen der Asylbewerber im Asylverfahrensablauf sowie bei den Inhaftierungsmöglichkeiten vorgenommenen Verschlechterungen bestehen nach Ansicht des Gerichts derzeit systemische Schwachstellen des ungarischen Asylverfahrens sowie der Aufnahmebedingungen, die die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.v. Art 4 Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) bergen. Dabei ist zu sehen, dass der UNHCR, dessen Wertungen im Kontext der Prüfung des Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin-III-VO maßgebliches Gewicht zukommt […], bereits im Vorfeld der zwischenzeitlich beschlossenen Gesetzesänderungen Bedenken angemeldet und sich insoweit als „tief besorgt“ (deeply concerned) bezeichnet hatte (vgl. den im Internet veröffentlichten englisch-sprachigen Kommentar vom 3.7.2015: UNHCR urges Hungary not to amend asylum system in haste; abrufbar unter: http://www.unhcr.org/559641846.html). Unter anderem hatte der UNHCR ausgeführt, dass das Asylsystem Ungarns bereits vor der Novelle immer restriktiver geworden war; es werde befürchtet, dass die neuen Vorschläge es Flüchtlingen unmöglich machen wird, in diesem Land Sicherheit zu suchen. Letzteres ist aus Sicht des Gerichts infolge der zwischenzeitlichen Entwicklungen derzeit anzunehmen. Nachdem der UNHCR selbst bemerkt, dass das ungarische Asylsystem vor der aktuellen Novelle zunehmend restriktiver geworden war, sieht das Gericht auch die jüngsten Verschärfungen der Haftbedingungen und insbesondere die neue Regelung zur Annullierung des Asylantrags bei über 48-stündiger Abwesenheit vom zugewiesenen Aufenthaltsort vor dem Hintergrund der vom UNHCR bereits zur früheren Rechtslage und Flüchtlingssituation geäußerten deutlichen Kritik […]. Daraus ergab sich bereits zur früheren Situation vor dem 6. Juli 2015 unter anderem, dass es Verwaltungsentscheidungen, mit denen die Asylhaft gegenüber Erstantragstellern angeordnet wird, regelmäßig an einer einzelfallbezogenen Begründung fehlte; der UNHCR ging davon aus, dass haftanordnende Entscheidungen weder den konkreten Haftgrund, noch Angaben dazu enthalten, warum die Inhaftierung aus Sicht der zuständigen Behörden im konkreten Einzellfall erforderlich und angemessen ist und keine anderen milderen Mittel in Betracht kommen, um eine Verfügbarkeit des Antragstellers im Asylverfahren sicherzustellen […]. Vielmehr sei vollkommen intransparent und daher nicht vorhersehbar, welche Asylbewerber in Ungarn verhaftet würden und welche nicht und warum […]. Dabei wurden die bestehenden Rechtsschutzmöglichkeiten gegen die Asylhaft als ineffektiv und im Ergebnis wirkungslos bewertet; selbständige Rechtsbehelfe stünden gegen die behördliche Anordnung der Asylhaft nicht zur Verfügung […]. Die Überprüfung der Haftanordnungen erfolge vielmehr im Rahmen einer automatischen gerichtlichen Haftüberprüfung in einem 60-Tag-Rhythmus, wobei für den einzelnen Überprüfungstermin regelmäßig nur wenige Minuten zur Verfügung stünden […]. Hinzu komme, dass nach einer Untersuchung die das höchste Gericht Ungarns (Kuria) in den Jahren 2011 und 2012 durchgeführt habe, die automatische Haftüberprüfung (durch dieselben Gerichte, die auch nach neuem Recht für die Überprüfung zuständig sind), lediglich in drei von 5.000 bzw. 8.000 Fällen tatsächlich zu einer Aufhebung der Haftanordnung geführt habe […]. Hinzu komme, dass dem UNHCR hinsichtlich der vom ungarischen Asylrecht seinerzeit neben der automatischen Haftprüfung dem Asylbewerber eingeräumten Möglichkeit einer „objection“, also einer Art Einspruch gegen die Anordnung der Asylhaft, seit der Wiedereinführung der Asylhaft zum 1 Juli 2013 kein einziger Fall bekannt geworden war, in dem ein solcher Einspruch tatsächlich erhoben worden sei; nach Einschätzung des UNHCR seien Asylbewerber in der Praxis überhaupt nicht über diesen Rechtsbehelf informiert bzw. seitens der zuständigen Behörden von einer Einlegung abgehalten worden mit dem Hinweis darauf, dass dieser Rechtsbehelf ungeeignet sei, die Rechtmäßigkeit der Haftentscheidung anzugreifen […]. Es kann dahinstehen, inwieweit bereits frühere Kritik des UNHCR für sich allein betrachtet hinreichte, um von systemischen Mängeln des ungarischen Asylverfahrens derart auszugehen, dass darin eine hinreichende Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung i.S.v Art 3 Unterabs. 2 Dublin-III-VO lag oder nicht. Den jedenfalls in der Zusammenschau der jüngsten Verschärfung der Inhaftierungsmöglichkeiten und der gleichzeitigen Einführung einer Annulierungsregelung bei mehr als 48-stündiger Abwesenheit vom zugewiesenen Aufenthaltsort ist von einer derartigen Gefahr auszugehen, weil gleichzeitig – von der ungarischen Regierung selbst eingeräumt – in Ungarn erhebliche Kapazitätsengpässe bestehen. Wenn nämlich die Haft während des gesamten Asylverfahrens aufrechterhalten werden kann, gleichzeitig aber keine ausreichenden Kapazitäten für die Durchführung der enorm gestiegenen Verfahrenszahlen zur Verfügung stehen, ist angesichts der bereits in der Vergangenheit zu konstatierenden geringen Rechtsbehelfsmöglichkeiten gegen Asylhaft von einer in einer Vielzahl von Fällen systemisch-unverhältnismäßigen Inhaftierungspraxis auszugehen. Weil gleichzeitig angesichts der erheblichen Kapazitätsdefizite nicht von einer hinreichenden effizienten Durchführung des Asylverfahrens ausgegangen werden kann, müssen auch tatsächlich verfolgte Asylantragsteller damit rechnen, ohne überwiegende Gründe mit einer zeitlich nicht hinreichend begrenzten Haftsituation konfrontiert zu werden, obwohl sie mit dem Asylantrag nur von ihrem Menschenrecht auch Asyl Gebrauch machen. Hierin liegt nicht nur im Hinblick auf die Asylhaft eine systemische Schwachstelle des ungarischen Asylverfahrens. Infolge der Kapazitätsengpässe ist auch nicht ersichtlich, dass diese Verfahrensweise den Zweck des Asylverfahrens, nämlich die Klärung der Frage, ob tatsächlich Asylgründe vorliegen oder nicht, maßgeblich befördern würde. Das ungarische Asylsystem in seine aktuellen Ausgestaltung ist deshalb von erheblichen Verfahrensrestriktionen gekennzeichnet, gewährleistet aber gleichzeitig nicht die Erreichung des Zwecks des Asylverfahrens. Das gilt angesichts der Neuregelung auch in Fällen, in denen keine Asylhaft angeordnet wird im Hinblick auch die Annullierungsregelung bei mehr als 48-stündiger Abwesenheit. Denn es ist nicht zu verkennen, dass eine formale Annullierungsregelung gerade bei solchen Personen, die tatsächlich Verfolgung erlitten haben, einen besonderen Druck erzeugt, von ihrer Bewegungsfreiheit keinen Gebrauch zu machen, wobei andererseits angesichts der beschriebenen erheblichen Kapazitätsengpässe auch insoweit nicht davon auszugehen ist, dass diese Einschränkung zeitlich überschaubar wäre oder ihrerseits den Zweck des Asylverfahrens befördern könnte. Auch insoweit ist einer systemischen Schwachstelle des ungarischen Asylverfahrens auszugehen. Hinzu kommt, dass die im Zeitpunkt der vorliegenden Entscheidung veröffentlichten aktuellen Stellungnahmen der Non-Government-Ogranisationen zur aktuellen Lage der Asylbewerber in Ungarn nach der am 6. Juli 2015 beschlossenen Gesetzesnovelle keine andere Einschätzung nahelegen. Insoweit macht das Gericht die Stellungnahme von proasyl „Kein Schutz für niemanden: Ungarn verabschiedet sich vom Flüchtlingsrecht“ […] zum Gegenstand des vorliegenden Verfahrens.

VG Köln 22. Kammer / Az.: 22 L 1302/15.A / Ungarn

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Es bestehen […] bei summarischer Prüfung auf der Grundlage aktueller Erkenntnisse konkrete Anhaltspunkte dafür, dass systemische Mängel des Asylsystems in Ungarn derzeit einer Überstellung der Antragsteller entgegenstehen (vergleiche Art. 3 Abs. 2 Dublin III-Verordnung). Solche liegen vor, wenn es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für (Asyl-)Antragsteller in dem zuständigen Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der EU-Grundrechte Charta (EU-GR-Charta) mit sich bringen (Unterabsatz 2) […]. Zwar sollten nach dem „Udpate“ des UNHCR von Dezember 2012 […] Mängel der ungarischen Ausländer- und Asylverfahrenspraxis mit Verabschiedung und Umsetzung von Gesetzesänderungen mit Wirkung von Januar 2013 an entschärft werden […]. Und auf eine Parlamentarische Anfrage vom 22. Juli 2013 hat die Europäische Kommission mitgeteilt, als Hüterin der Verträge werde sie nicht zögern, geeignete Schritte einzuleiten, falls sich herausstellen solle, dass Ungarn gegen EU-Recht verstoße […]. Gleichwohl bedarf aufgrund jüngerer Erkenntnisse die aktuelle Praxis beim Umgang mit den Antragstellern, die im Rahmen des Dublin-III Verfahrens an Ungarn überstellt werden, noch näherer Überprüfung. Nach der sich im Zuge der Gesetzesänderungen von Januar 2013 inzwischen herausstellenden tatsächlichen Asylpraxis Ungarns werden danach jedenfalls Dublin-Rückkehrer nahezu ausnahmslos inhaftiert, wobei sowohl hinsichtlich des Verfahrens der Haftanordnung als auch hinsichtlich der hiergegen bestehenden Rechtsschutzmöglichkeiten Anhaltspunkte für eine grundrechtsverletzende, willkürliche und nicht dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechende Inhaftierungspraxis bestehen. Dies gilt vor allem hinsichtlich der Inhaftierung von besonders schutzbedürftigen Personen […]. Es besteht die ernstliche Befürchtung der systematisch willkürlichen und unverhältnismäßigen Inhaftierung von Dublin-Rückkehrern […]. Hinzu kommt, dass sich die Zahl der Asylantragsteller in Ungarn allein in den ersten Monaten des Jahres 2015 auf annähernd 60.000 gesteigert hat. Die derzeitige Regierung hatte daher laut Pressemeldungen vom 24.6.2015 inzwischen die Regelungen der Dublin-III VO für Ungarn „aus technischen Gründen“ zunächst aussetzen wollen, offensichtlich um eine Rücküberstellung von Erstantragstellern, die zwischenzeitlich in andere EU-Länder weitergereist waren, ablehnen können […]. Erst auf massive Intervention anderer EU-Staaten sowie der EU-Kommission ließ sie dann kurz darauf mitteilen, letztlich nur die Aufnahme von Flüchtlingen aus anderen Mitgliedsstaaten ablehnen zu wollen, die – wie etwa im Falle von Griechenland – dort erstmals in das Gebiet der Union gelangt seien […]. Ob vor diesem Hintergrund der Antragsteller im Rahmen seines Asylverfahrens in Ungarn eine seine grundlegenden Menschenrechte wahrende Behandlung erfahren würde, ist danach derzeit weitgehend unklar, so dass die bestehenden Zweifel am Asyl- und Aufnahmeverfahren in Ungarn einer Prüfung im Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben müssen.

Zu den Kapazitätsengpässen bei Dublin-Überstellungen nach Ungarn siehe auch diesen und diesen Artikel bei Bordermonitoring Ungarn.

VG Braunschweig 4. Kammer / Az.: 4 B 273/15 / Ungarn

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[Es] ist davon auszugehen, dass Ungarn derzeit keine Flüchtlinge mehr zurücknimmt, die in andere Mitgliedsstaaten weitergereist sind. Das Verwaltungsgericht Oldenburg hat hierzu in dem Urteil vom 19.06.2015 – 13 A 1294/15 – Veröffentlichung nicht bekannt) ausgeführt:

„Hier hat das Bundesamt dem Gericht in den Verfahren 13 A 1441/15 und 13 B 1440/15 auf Nachfrage mitgeteilt, die ungarischen Behörden hätten darum gebeten, bis zum 19 Mai 2015 keine Überstellungen nach Ungarn mehr durchzuführen. Im Klageverfahren 13 A 1408/15 ist dem Gericht vom Bundesamt sodann auf detaillierte Nachfrage u.a. zu den im Jahr 2015 aus Deutschland durchgeführten Überstellungen und den Kriterien, nach welchen bestimmt wird, welche Asylsuchenden tatsächlich überstellt würden, mit Schriftsatz vom 30. April 2015 ein Vermerk folgenden Inhalts vorgelegt worden:

1. Die ungarische Dublin Unit hat den Mitgliedsstaaten am 27. April mitgeteilt, dass bis einschl. 09.06.2015 keine Überstellungen durchgeführt werden können, da die Kapazitäten erschöpft seien.

2. Im Zeitraum Januar bis März 2015 wurden 2957 Übernahmeersuchen an Ungarn gestellt, in 2300 Fällen wurde zugestimmt. Im gleichen Zeitraum erfolgten 32 Überstellungen nach Ungarn. Eine Prognose, wieviel Flüchtlinge Ungarn in diesem Jahr voraussichtlich noch zurücknehmen wird, kann von hier aus nicht abgegeben werden.

3. Für die Überstellung gibt es keine konkreten Kriterien, das Überstellungsverfahren wird zeitnah nach Vollziehbarkeit eingeleitet. Allenfalls wird die verbleibende Überstellungsfrist für eine beschleunigte Einleitung des Überstellungsverfahrens herangezogen.“

In den Verfahren […] hat das Bundesamt mit Schriftsatz vom 13. Mai 2015 u.a. mitgeteilt: „Im Übrigen wird darauf hingewiesen, dass aktuell Rückführungen nach Ungarn bis 02.07.2015 nicht möglich sind. Wann sich diese Situation ändert, ist nicht absehbar“. In einer Mitteilung des Bundesamts vom 27. Mai 2015 im Klageverfahren […] ist davon die Rede, dass die Kapazitäten der ungarischen Behörden für eine Rückführung bis Mitte Juli 2015 erschöpft seien. Im neusten Schreiben des Bundesamts vom 15. Juni 2015 im Klageverfahren […] heißt es u.a., die Kapazitäten seien bis zur 34. KW ausgeschöpft.“

Daneben hat das Verwaltungsgericht Stade in dem Beschluss vom 11.06.2015 – 6 B 815/15 – (Veröffentlichung nicht bekannt) folgendes ausgeführt:

„Aus dem vom Antragsteller in dieses Verfahren eingeführten Vermerk des Bundesamts vom 30.04.2015 […] ist ersichtlich, dass die ungarische Dublin-Unit den Mitgliedstaaten mitgeteilt hat, dass Ungarn zunächst bis zum 09.06.2015 keine Überstellungen akzeptieren wird, da die Kapazitäten dort erschöpft seien. Das Bundesamt hat gegenüber anderen Kammern dies Gerichts diesen Umstand bestätigt und ergänzend mitgeteilt, dass diese Frist zwischenzeitlich bis zum 05.08.2015 verlängert worden ist  […]. Unter welchen Umständen von dieser Praxis wieder abgerückt werden könnte, ist nicht ersichtlich. Zudem hat die Antragsgegnerin hierzu trotz Aufforderung des Gerichts keine Stellung genommen, z.B. durch Vorlage von aktuellen entgegenstehenden Erkenntnisen des für Ungarn zuständigen Liaisonbeamten.“

Diese Angaben stimmen mit den derzeitigen Presseberichten überein, aus denen sich ergibt, dass Ungarn keine Flüchtlinge mehr zurücknimmt, die in andere Mitgliedstaaten weitergereist sind (vgl. http://www.sueddeutsche.de/politik/fluechtlinge-in-europa-ungarn-schottet-sich-ab-1.2534693; http://www.spiegel.de/politik/ausland/ungarn-setzt-eu-asylbewerberregeln-ausser-kraft-a-1040329.html; http://www.faz.net/aktuell/politik/europaeische-union/ungarn-will-keine-fluechtlinge-mehr-aufnehmen-13664323.html).

Die Verwaltungsgerichte Stade (Urteil vom 24.06.2015 – 6 A 159/15) und Lüneburg (Urteil vom 26.06.2015 – 6 A 446/14) haben Abschiebungsanordnungen jeweils im Hauptsacheverfahren wegen der zu den Zeitpunkten der mündlichen Verhandlung feststehenden Nichtdurchführbarkeit  einer Abschiebung nach Ungarn aufgehoben. Unter Berücksichtigung dieser Erkenntnisse geht die Kammer davon aus, dass jedenfalls derzeit bis zum Abschluss der 34. Kalenderwoche, mithin dem 23.08.2015, eine Abschiebung nicht durchgeführt werden kann. Ob nach diesem Zeitpunkt Abschiebungen durchgeführt werden können, steht derzeit nicht fest.

VG Arnsberg 6. Kammer / Az.: 6 L 721/15.A / Ungarn

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§ 34 a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG bestimmt, dass die Abschiebung in einen sicheren Drittstaat oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 27 a) angeordnet werden kann, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Nach der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichtes für das Land Nordrhein-Westfalen, der sich die Kammer anschließt, bedeutet dies, dass die Abschiebungsanordnung erst dann zu erlassen ist, wenn die Rücknahmebereitschaft desjenigen Staates, in den abgeschoben werden soll, geklärt ist […]. Dem Bundesamt obliegt damit die Prüfung, dass weder zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse noch der Abschiebung entgegenstehende inlandsbezogene Vollzugsgründe, auch Duldungsgründe nach § 60 a Abs. 2 des Aufenthaltsgesetzes, vorliegen […]. Zu den tatsächlichen Vollzugshindernissen, die einen Duldungsanspruch auslösen, gehört der Umstand, dass die Abschiebung aus tatsächlichen Gründen unmöglich ist (§ 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG). Fehlende Übernahmebereitschaft des Staates, in den abgeschoben werden soll, ist ein solcher Umstand. Da die Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG nicht etwa nur zu unterlassen ist, wenn ein solcher Duldungsgrund vorliegt, sondern erst ergehen kann, wenn der Duldungsgrund ausgeschlossen ist („feststeht, dass die durchgeführt werden kann“), muss die Übernahmebereitschaft positiv geklärt sein […]. Daran fehlt es hier. Die Rückübernahme von im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen durch die Republik Ungarn richtet sich nach dem Abkommen zwischen der Regierung von Ungarn über die Rückübergabe/Rückübernahme von Personen an der Grenze (Rückübernahmeabkommen) und dem Protokoll zur Durchführung des Abkommens, in Kraft getreten am 1. Januar 1999 (BGBI Jahrgang 19999 Teil II Nr. 5). Nach Art. 4 Abs. 1 des Rückübernahmeabkommens übernimmt jede Vertragspartei auf Antrag der anderen Vertragspartei ohne besondere Formalitäten die Person, die nicht die Staatsangehörigkeit einer Vertragspartei besitzt (Drittstaatenangehöriger), wenn sie die im Hoheitsgebiet der ersuchenden Vertragspartei geltenden Voraussetzungen für die Einreise und den Aufenthalt nicht erfüllt und nachgewiesen oder glaubhaft gemacht hat, dass die Person 1. über einen gültigen, durch die andere Vertragspartei ausgestellten Aufenthaltstitel oder ein gültiges Visum verfügt oder 2. auf dem Luftweg unmittelbar aus dem Hoheitsgebiet der ersuchten Vertragspartei rechtswidrig in das Hoheitsgebiet der ersuchenden Vertragspartei eingereist ist. Art. 4 Abs. 2 des Rückübernahmeabkommens bestimmt, dass diese Rückübernahmeverpflichtung nicht gegenüber einem Drittstaatsangehörigen besteht, der 1. bei seiner Einreise in das Hoheitsgebiet der ersuchenden Vertragspartei im Besitz eines gültigen Visums oder eines anderen gültigen Aufenthaltstitels dieser Vertragspartei war oder dem nach seiner Einreise ein Visum oder ein anderer Aufenthaltstitel durch diese Vertragspartei ausgestellt wurde oder 2. aus einem Staat gekommen ist, mit dem die ersuchende Vertragspartei eine gemeinsame Grenze hat. Gemäß Art. 5 des Rückübernahmeabkommens muss der Antrag auf Übernahme innerhalb von vier Monaten nach Kenntnis der jeweiligen Behörden von der rechtswidrigen Einreise oder des rechtswidrigen Aufenthalts des Drittstaatenangehörigen gestellt werden. Die ersuchte Vertragspartei beantwortet die an sie gerichteten Übernahmeersuchen unverzüglich, längstens jedoch innerhalb von 14 Tagen. Gemäß Art 5 Abs. 2 des Rückübernahmeabkommens kann die ersuchte Vertragspartei die Übernahme ablehnen, wenn sie nachweist, dass der Drittstaatsangehörige ihr Hoheitsgebiet vor mehr als sechs Monaten verlassen hat. Unter Zugrundelegung dieser Bestimmungen steht zum gegenwärtigen und gemäß § 77 Abs. 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt die Bereitschaft zur Rückübernahme der Antragstellerinnen durch die Republik Ungarn nicht fest. Dabei kann offenbleiben, ob einer Verpflichtung Ungarns zur Rückübernahme der Antragsstellerinnen im Hinblick auf ihre Einreise in das Bundesgebiet durch die Republik Österreich bereits die Bestimmung des Art. 4 Abs. 2 Nr. 2 des Rückübernahmeabkommens entgegensteht. Denn ungeachtet dessen ergibt sich aus den von der Antragsgegnerin eingereichten Verwaltungsvorgängen nicht, dass die Antragsgegnerin den gemäß Art. 5 Abs. 1 des Rückübernahmeabkommens erforderlichen Antrag auf Übernahme gestellt hat. Dabei spricht auch Vieles dafür, dass die Frist von vier Monaten zur Stellung eines solchen Antrags bereits abgelaufen ist, da die Antragsgegnerin seit dem persönlichen Gespräch mit der Antragsstellerin zu 1) zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats am 16 Februar 2015 von der rechtswidrigen Einreise der Antragstellerinnen in das Bundesgebiet Kenntnis gehabt haben dürfte. Jedenfalls fehlt es bislang an einer Zustimmung Ungarns zur Übernahme der Antragstellerinnen. Eine solche Zustimmung eines um Übernahme ersuchten Staates ist jedoch selbst dann zu verlangen, wenn keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Übernahme verweigert werden könnte […].

Das Rückübernahmeabkommen steht hier zum Download zur Verfügung.

VG Düsseldorf 8. Kammer / Az.: 8 L 513/15.A / Ungarn

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Allerdings erweist sich die Abschiebungsanordnung als rechtswidrig, weil nicht i.S.d. § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG feststeht, dass die Abschiebung des Antragstellers nach Ungarn durchgeführt werden kann. Aus dem Begriff „sobald“ i.S.d. § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG folgt, das die Abschiebungsanordnung erst dann zu erlassen ist, wenn die Rückführung in allernächster Zeit auch tatsächlich möglich ist. Daher muss die Übernahmebereitschaft desjenigen Drittstaats, in den abgeschoben werden soll, geklärt sein […]. Mit der Forderung, dass feststehen muss, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann, obliegt dem Bundesamt die Prüfung, dass weder zielstaatsbezogene Abschiebehindernisse noch der Abschiebung entgegenstehende inlandsbezogene Vollzugshindernisse, auch Duldungsgründe nach § 60a Abs. 2 AufenthG, vorliegen […]. Zu den tatsächlichen Vollzugshindernissen, die einen Duldungsanspruch auslösen, gehört der Umstand, dass die Abschiebung aus tatsächlichen Gründen unmöglich ist (§ 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG). Fehlende Übernahmebereitschaft des Staates, in den abgeschoben werden soll, ist ein solcher Umstand. Da die Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG nicht etwa nur zu unterlassen ist, wenn ein solcher Duldungsgrund vorliegt, sondern erst dann ergehen kann, wenn ein solcher ausgeschlossen ist („feststeht, dass sie durchgeführt werden kann“), muss die Übernahmebereitschaft positiv geklärt sein […]. Daran fehlt es hier. Zwar hat Ungarn der Wiederaufnahme des Antragstellers mit Schreiben vom 13. Januar noch ausdrücklich zugestimmt. Zwischenzeitlich ist die Rücknahmebereitschaft jedoch fraglich. Nachdem die ungarische Regierung am 23. Juni 2015 mit der Aussage zitiert worden ist, aus technischen Gründen ab sofort keien Flüchtlinge mehr auf der Grundlage der Dublin III-Verorndung zurückzunehmen […], ist diese Ankündigung aktuellen Pressemitteilungen zufolge eine Tag später dahingehend eingeschränkt worden, dass sich dies nur auf Flüchtlinge beziehe, die über Griechenland in die Europäische Union eingereist seien und die andere EU-Staaten „irrtümlich“ nach Ungarn überstellen wollten. Im Übrigen halte Ungarn ausnahmslos alle EU-Vereinbarungen ein und erfüllte seien EU-Verpflichtungen ohne Abstriche […]. Da der Antragsteller nachweislich über Griechenland in die Europäische Union eingereist ist, steht seine Übernahme durch Ungarn nach der Dublin III-Verordnung derzeit nicht in dem oben dargelegten Sinne fest.

Zu den Kapazitätsengpässen bei Dublin-Überstellungen nach Ungarn siehe auch diesen und diesen Artikel bei Bordermonitoring Ungarn.

VG Potsdam 4. Kammer / Az.: VG 4 L 757/15.A / Ungarn

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[D]as Gericht [schließt sich]  der zur Situation in Ungarn seit der Rechtsänderung vom 1. Juli 2013 auf Grundlage der jüngeren Erkenntnisse ergangenen Rechtsprechung an […], nach der ernst zu nehmende Anhaltspunkte dafür bestehen, dass das Asyl- und Aufnahmeverfahren in Ungarn systemische Schwachstellen aufweist  mit der Folge, dass im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes das Aussetzungsinteresse der Antragsteller gegenüber dem Abschiebungsinteresse der Antragsgegnerin überwiegt. Hinzu kommt, dass ungarische Behörden erklärt haben, dass sie keinen Platz mehr hätten. Ein solches Abschiebungshindernis ist bei der Prüfung einer auf § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG beruhenden Abschiebungsanordnung zu berücksichtigen, weil die Norm ausdrücklich bestimmt, dass das Bundesamt die Abschiebung anordnet, „sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann“.